Auch bei Flüchtlingen gilt die altbekannte Regel: "Wenn du Hufgetrappel hörst, denke zuerst an Pferde und nicht an Zebras." So steckt bei 90 % der Flüchtlinge hinter Atemwegsbeschwerden eine banale Erkältung. Nur sehen die "Zebras" bei Menschen aus Syrien, Nordafrika oder Afghanistan etwas anders aus als bei deutschen Patienten.

Deutschland und Europa erleben aktuell die größte Flucht seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Flüchtlinge aus Syrien, aus Nordafrika, aus Afghanistan sowie aus den Balkanstaaten kommen nach Deutschland. Die Flüchtlingskrise macht auch vor unseren Praxen nicht halt. Immer mehr Flüchtlinge, die aus einem völlig anders organisierten Gesundheitssystem stammen, suchen Hausarztpraxen auf.

Andere Länder, andere Sitten

Haben Sie sich schon mal gewundert, warum ein Flüchtling sich nicht zur vereinbarten Zeit in Ihrer Praxis vorgestellt hat? Und selbst auf Nachfrage konnte Ihnen niemand im Flüchtlingslager sagen, ob sich der Flüchtling noch im Lager aufhält oder wie er erreicht werden kann?

Tipps für die Praxis
  • Da Namen, Geburtsdaten und Aufenthaltsort häufig wechseln: Lassen Sie sich immer auch die Handynummer Ihres Patienten geben und erfassen Sie auch Registriernummern von Einrichtungen oder Behörden, um Ihren Patienten erneut kontaktieren zu können.
  • Schlafstörungen bei Flüchtlingen sind häufig sekundär und resultieren aus zugrundeliegenden Angst- oder Anpassungsstörungen sowie posttraumatischen Belastungsstörungen. Benzodiazepine sind hier häufig nicht hilfreich. Ein Kurzkontakt mit einem Psychologen sollte erwogen werden.

Stellen Sie sich einmal ein Lager mit 1.000 Flüchtlingen in 150 Zelten vor. Gruppen aus 4 bis 20 Personen werden bunt zusammengemischt, ein Teil zieht weiter, ein anderer Teil findet neue Freunde und zieht im Lager um. Der arabische Name wird immer wieder anders in lateinische Buchstaben übersetzt, Alter und Geburtsdatum sind unbekannte Größen und werden immer wieder anders angegeben. Und nur, wer es in den letzten Wochen geschafft hat, sich immer den Behörden zu entziehen, dem gelang am Ende der Weg bis nach Deutschland. Keine guten Voraussetzungen, um einen Flüchtling zu registrieren und an unser Gesundheitssystem verlässlich anzubinden.

Normale Beschwerden – aber exotische Erkrankungen

Die meisten Flüchtlinge, die sich in Ihrer Praxis vorstellen, leiden an banalen Erkrankungen. Etwa ein Drittel der Flüchtlinge klagt über Atemwegserkrankungen, wovon 90 % Erkältungskrankheiten sind. Häufig sind auch (parasitäre) Hauterkrankungen, wie Krätze oder Beschwerden des Bewegungsapparates [1].

Allerdings kommen in Einzelfällen auch seltene, importierte Erkrankungen, wie Rickettsiosen, Brucellosen und Malaria vor. Auch noch seltener nach Deutschland importierte Erkrankungen, wie z. B. die endemische Syphilis, eine durch Fliegen übertragene Infektion mit Treponemen, die vor allem im Gesicht und häufig bei Kindern vorkommt, wurden beobachtet. Vor allem Flüchtlinge aus Nordafrika können neben der Malaria eine Leishmaniose oder eine kutane Tuberkulose importieren. Im Verdachtsfall sollte daher großzügig Kontakt mit einem örtlichen Infektiologen aufgenommen werden.

Behalten Sie im Hinterkopf, dass die meisten Flüchtlinge jung und gesund sind. Das syrische Gesundheitssystem war bis vor dem Krieg sehr leistungsfähig, sodass viele Patienten gut versorgt waren. Dies trifft für Flüchtlinge aus Subsahara-Afrika oder Afghanistan häufig nicht zu. Hier sind häufiger chronische oder bereits weit fortgeschrittene Erkrankungen zu behandeln.

Psychische Belastungen und somatoforme Störungen

Viele Patienten stellen sich immer wieder mit unspezifischen Schmerzen, Schlafstörungen oder Schwindel vor. Diese sind häufig psychisch bedingt. Flucht, Verfolgung, Verlust und Unsicherheit manifestieren sich häufig körperlich. Zusätzlich ist durch die Sprachbarriere eine Exploration erschwert. Während nach unseren Erfahrungen Flüchtlinge aus Syrien vor allem unter Schlafstörungen, Angst- und Anpassungsstörungen leiden, sind bei Flüchtlingen aus Afghanistan häufiger komplexe, verfestigte Traumatisierungen zu beobachten. Dies könnte auf die deutlich länger bestehenden kriegerischen Auseinandersetzungen zurückzuführen sein.

Impfungen sind essenziell

Flüchtlinge sind auf ihrem langen Weg besonders gefährdet, an Infektionen zu erkranken. Die hierbei wirksamste Prävention sind Impfungen. Der genaue Impfstatus der Flüchtlinge ist unbekannt. In unseren Untersuchungen in Norddeutschland konnten wir zeigen, dass alle Flüchtlinge > 50 Jahre Antikörper gegen Masern, Mumps, Röteln und Windpocken aufwiesen, während Kinder in 17 % keinen Schutz gegen Masern und 9 % keinen Schutz gegen Windpocken hatten [2].

Für Tetanus und Diphtherie wiesen 65 % der Flüchtlinge > 50 Jahre keinen ausreichenden Schutz gegen Tetanus und 85 % keinen ausreichenden Schutz gegen Diphtherie auf, während Kinder nur in 25 % der Fälle fehlende Tetanus- und in 71 % der Fälle keine ausreichende Diphtherieimmunität aufwiesen [3]. Kein Patient hatte keine Tetanus-Antikörper und bei nur 2 % der Patienten fehlten Diphtherieantikörper vollständig. Hieraus schließen wir, dass zwar die meisten Patienten eine Auffrischimpfung benötigen, eine Grundimmunisierung aber in aller Regel nicht nötig ist.

Sexuell übertragbare Erkrankungen sind selten

Je nach Herkunftsland der Migranten unterscheiden sich die Hepatitis- und HIV-Inzidenz deutlich. Insgesamt unterschied sich die HIV-, Syphilis- [5] und Hepatitis-C-Prävalenz [6]nicht signifikant von der deutschen Allgemeinbevölkerung. Die Hepatitis-B-Prävalenz war mit 2,3 % HBs-Ag-positiven Flüchtlingen zwar höher als in der deutschen Bevölkerung, aber deutlich niedriger als z. B. bei türkischen Migranten [7].

Das generelle Angebot eines HIV-Tests ist nur in Risikogruppen (z. B. Herkunft aus Subsahara-Afrika) sinnvoll. Eine routinemäßige HIV-Testung vor aktiver Impfung ist bei Flüchtlingen nicht erforderlich.

Eigenschutz durch Standardhygiene

In der Arbeit mit Flüchtlingen sollte auch der Eigenschutz beachtet werden. Hier sind Standardhygienemaßnahmen, allen voran die Händedesinfektion, zu beachten. Bei parasitären Erkrankungen (z. B. Krätze) sollten zusätzlich die Hände gewaschen werden, da Milben nicht sicher durch Desinfektionsmittel abgetötet werden. Das generelle Tragen einer Atemschutzmaske ist nicht erforderlich. Diese ist nur bei Verdacht auf offene pulmonale Tuberkulose (FFP2) zu empfehlen.

Flüchtlinge sind fast normale Patienten

Nachdem erste Sprach- und Kulturbarrieren überwunden wurden, sind Flüchtlinge häufig sehr dankbare Patienten, denen häufig mit geringen Mitteln geholfen werden kann. Wichtig ist, dass zwar 99 % aller Erkrankungen banal sind, aber Sie immer offen sein sollten, den einen Kolibri zu entdecken.

Bei der Behandlung von Flüchtlingen befindet sich jeder Arzt in einem Spannungsfeld von gesetzlichen Vorgaben und ärztlichem Berufsethos. Die alleinige Behandlung akuter Erkrankungen scheint unserer Meinung nach dem Versorgungsbedarf der Flüchtlinge nicht angemessen begegnen zu können.

Merke
  • Alle Flüchtlinge sollten eine Auffrischimpfung gegen Tetanus, Diphtherie und Polio sowie Pertussis erhalten. Flüchtlinge, die nach 1970 geboren wurden, sollten zusätzlich gegen Masern, Mumps und Röteln geimpft werden [4]. Infekte ohne hohes Fieber oder generelle Schwäche durch die Flucht sollten diese wichtigen Impfungen auf keinen Fall verzögern oder verhindern.
  • Zum Screening auf eine Hepatitis sind Transaminasen in dieser Gruppe ungeeignet. Der positive prädiktive Wert der AST für eine Hepatitis B lag bei 0 und für ALT bei 0,016. Zum Screening ist in dieser Gruppe vor allem junger Patienten also nur die Hepatitis-Serologie geeignet.


Literatur:
1. Grote, U., Wildenau, G., Behrens, G. & Jablonka, A. Primärärztliche Versorgung von Flüchtlingen in Deutschland – Erste Daten zu Demographie und Behandlungsanlässen nach Etablierung einer medizinischen Grundversorgung in Zentralen Erstaufnahmen. Anästhesiologie und Intensivmed. 56, 654 – 660 (2015).
2. Jablonka, A. et al. Measles, Mumps, Rubella and Varicella Seroprevalence in Refugees in Germany in 2015. submitted (2016).
3. Jablonka, A. et al. Vaccine-preventable Diseases during the current crisis: Tetanus and Diphtheria Immunity in Refugees in Europe. submitted (2016).
4. Robert-Koch-Institut. Konzept zur Umsetzung frühzeitiger Impfungen bei Asylsuchenden nach Ankunft in Deutschland. Epidemiol. Bull. 41, 439–44 (2015).
5. Jablonka, A. et al. Niedrige Seroprävalenz von Syphilis und HIV bei Flüchtlingen in Deutschland. Dtsch. medizinische Wochenschrift. accepted (2016).
6. Jablonka, A. et al. Niedrige Seroprävalenz von Hepatitis C bei Flüchtlingen in Deutschland. submitted (2016)
7. Hampel, A. et al. Aktuelle Seroprävalenz, Impfstatus und prädiktiver Wert der Leberenzyme der Hepatitis B bei Flüchtlingen in Deutschland im Jahr 2015. Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforsch. - Gesundheitsschutz DOI: 10.1007/s00103-016-2333-8. (2016).



Autor:

Dr. med. Alexandra Jablonka

Medizinische Hochschule Hannover
Klinik für Immunologie und Rheumatologie OE6830
Medizinische Hochschule Hannover
30625 Hannover

Interessenkonflikte: Die Autorin hat keine deklariert.



Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2016; 38 (9) Seite 44-46