Alte Menschen nehmen sich häufiger das Leben als jüngere. Die Gründe dafür können zum einen schwere psychische oder somatische Erkrankungen, zum anderen soziale Notlagen wie Vereinsamung, Konflikte mit nahestehenden Menschen oder Armut sein. Derartige Risikofaktoren gilt es frühzeitig zu erkennen.

Kasuistik
Eine 65-jährige Rentnerin schließt sich nach einem Streit mit ihrem Ehemann im Badezimmer ein und verübt einen Suizidversuch durch oberflächliche Schnittverletzungen am linken Handgelenk mit einer Nagelschere (Abb. 1). Der Ehemann begleitet sie daraufhin zur Hausärztin, die nach einer Wundversorgung die Vorstellung in einer gerontopsychiatrischen Fachklinik einleitet. Die Patientin erklärt sich dort mit einer freiwilligen stationären Aufnahme einverstanden. Zum Aufnahmezeitpunkt ist sie affektiv sichtlich erregt, weint phasenweise, ist formalgedanklich geordnet, inhaltlich auf familiäre Konflikte fokussiert. Es ergeben sich keine Hinweise für ein Wahnerleben. Sie distanziert sich von weiteren suizidalen Impulsen und erscheint absprachefähig. Der Suizidversuch stellt sich retrospektiv als Verzweiflungstat im Sinne einer dysfunktionalen Problemlösestrategie dar, eine echte Selbsttötungsabsicht wird nicht erkennbar. In den psychotherapeutischen Einzelgesprächen kristallisiert sich ein langjähriger Partnerschaftskonflikt heraus. Bereits vor 34 Jahren habe die Patientin einen Suizidversuch (Schlafmittelintoxikation) verübt, der aber zu keiner medizinischen Intervention geführt habe. Der Ehemann habe ein Alkoholproblem und neige zu aggressiven Ausbrüchen. Seitdem er in Rente und den ganzen Tag zu Hause sei, trinke er deutlich mehr. Versuche, ihn vom Trinken abzuhalten, würden im Streit enden. Die stationäre Krisenintervention wird nach zwölf Tagen beendet, die Patientin wird anschließend für vier Wochen in einer gerontopsychiatrischen Tagesklinik weiterbehandelt. Hier erfolgen gemeinsame Beratungen mit dem Ehemann und die Erarbeitung von Interventionsstrategien. Es gelingt, die familiären Konflikte sachlich zu thematisieren. Der Ehemann zeigt Einsicht in seine Alkoholgebrauchsstörung und nimmt eigenständig Kontakt zu einer Beratungsstelle auf. Die Patientin erfährt Unterstützung in den Gruppengesprächen, realisiert ihre häusliche Isolation und zeigt Bereitschaft, sich regelmäßig in einer Seniorenbegegnungsstätte einem Gesprächskreis anzuschließen.

Die Zahl vollendeter Suizide ist seit Mitte der 1980-er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland rückläufig gewesen, was auf die Verbesserung psychosozialer und medizinischer Hilfsangebote zurückgeführt wird. Leider ist seit 2009 wieder ein leichter Anstieg der Suizidraten erkennbar, dessen Ursache noch nicht bekannt ist. Laut dem Bundesamt für Statistik wurden im Jahr 2013 insgesamt 10.046 Suizide offiziell erfasst. Dahinter steht noch eine Dunkelziffer von unerkannt gebliebenen Suiziden, die als Unfälle oder ungeklärte Todesursachen nicht eindeutig als Suizide erkennbar waren. Die Suizide weisen in Deutschland ein sogenanntes "ungarisches Muster" auf, was bedeutet, dass mit zunehmendem Lebensalter die Zahl der vollendeten Suizide ansteigt [4].

Männer verüben im hohen Alter im Vergleich zu Frauen doppelt so häufig Suizide. Den vollendeten Suiziden steht eine unbekannte Zahl an Suizidversuchen gegenüber. Schätzungen gehen von weit über 100.000 Suizidversuchen (SV) pro Jahr in Deutschland aus. Auch wenn SV nicht zum Tod geführt haben, so können sie mit bleibenden gesundheitlichen Schäden verbunden sein und lebenslange gesundheitliche und soziale Folgen für die Betroffenen haben.

Suizidgefahr frühzeitig erkennen

In Tabelle 1 sind einige Risikofaktoren für Suizidhandlungen im höheren Lebensalter aufgeführt. Psychische Erkrankungen, insbesondere depressive Störungen, aber auch wahnhafte Störungen sind wichtige Risikofaktoren für Suizidhandlungen älterer Menschen. Suizidale Krisen können sich aber auch im Rahmen einer Vielzahl von psychosozialen Notlagen entwickeln. Chronische Schmerzen, eine zunehmende Mobilitätseinschränkung und Pflegebedürftigkeit, Kommunikationseinschränkungen durch Erblindung oder Schwerhörigkeit und zunehmende Isolation und Einsamkeit können als kumulative Belastungsfaktoren zusammenwirken und Suizidhandlungen auslösen. Die Diagnose einer neu festgestellten Erkrankung, wie z. B. Krebsleiden, kann Suizidgedanken anstoßen.

Auch die ärztliche Diagnose einer Demenzerkrankung kann für die Betroffenen große Verunsicherung und Angst vor Hilflosigkeit und Abhängigkeit bedeuten, so dass in Einzelfällen suizidale Krisen entstehen können [5]. Nicht immer sind es krankheitsbedingte Prozesse, die in Suizidhandlungen münden. Auch soziale Faktoren wie Mietstreitigkeiten, Armut, Konflikte mit der eigenen Familie, dem Ehepartner oder mit Nachbarn können so weit eskalieren, dass eine Selbsttötung als Lösung der als unerträglich empfundenen Situation unternommen wird. Das Spektrum suizidaler Verhaltensweisen reicht von appellativen Suizidandrohungen über Selbstverletzungen ohne wirkliche Selbsttötungsabsicht (sog. "parasuizidale Handlungen") bis hin zu Suizidhandlungen mit sehr konkreter Selbsttötungsabsicht. In jedem Fall ist es eine wichtige ärztliche Aufgabe, nach einer suizidalen Handlung, egal wie appellativ das Geschehen gewirkt haben mag, ein umfassendes Hilfsangebot einzuleiten. Verschiedene Untersuchungen haben ein hohes Wiederholungsrisiko nach einem Suizidversuch nachgewiesen [2, 3, 6].

Nach einem Suizidversuch

Ein SV ist Ausdruck einer existenziellen Krise und ein medizinischer Notfall, der professionelle Hilfe und Unterstützung erfordert [1]. Eine fachärztliche Untersuchung zur Frage des Vorliegens einer psychiatrischen Erkrankung und des möglichen Fortbestehens einer weiteren suizidalen Gefährdung ist unverzüglich zu veranlassen.

Häufig lehnen die Betroffenen eine stationäre psychiatrische Behandlung aufgrund von Vorurteilen ab. In einigen Fällen wird dann die Unterbringung auch gegen den Willen der Betroffenen auf der Grundlage der Unterbringungsgesetze der jeweiligen Bundesländer zu prüfen sein. Häufig gelingt es aber, die Betroffenen auf freiwilliger Grundlage von der Notwendigkeit einer psychiatrischen Abklärung und Behandlung zu überzeugen. Hier ist eine enge Zusammenarbeit der verschiedenen an der Behandlung beteiligten Ärzte notwendig, insbesondere wenn nach Intoxikationen oder Suizidversuchen mit Verletzungsfolgen (z. B. Polytrauma nach Sturz aus großer Höhe, Schnittverletzungen usw.) eine interdisziplinäre medizinische Behandlung notwendig wird.

Der direkte telefonische Kontakt mit niedergelassenen psychiatrischen Kollegen oder psychiatrischen Facheinrichtungen zur Einleitung der Weiterbehandlung nach einem SV ist wünschenswert zur optimalen Informationsweitergabe. Im Falle einer stationären Einweisung ist es wichtig, die Bereitschaft zur Weiterbehandlung der Betroffenen durch den Hausarzt nach der Entlassung zu betonen, da sich die Betroffenen oft für ihre Handlung schämen und meinen, sich rechtfertigen zu müssen.

Nach einem Suizid

Leider lassen sich Suizide trotz der in den vergangenen Jahren verbesserten psychosozialen Hilfsangebote nicht immer verhindern. Wenn ein Suizid verübt wird, so hinterlässt das Opfer nicht selten Angehörige, die sich mit dem schrecklichen Geschehen auseinandersetzen müssen und oft Schuldgefühle haben. Der Austausch mit anderen Betroffenen kann Entlastung bringen und helfen, das Geschehene zu verarbeiten und zu ertragen. Die Angehörigenorganisation "Angehörige um Suizid" (AGUS e. V.) vermittelt Kontakt zu regionalen Selbsthilfegruppen (s. u.). Aufgabe des Arztes ist es oft auch, die Schuldgefühle der Angehörigen aufzufangen. Die Frage nach dem "Warum?" ist oft nicht zu klären, manchmal passieren Suizide "raptusartig", ohne dass eine psychische Erkrankung oder konkrete Belastung im Vorfeld eindeutig erkennbar war.

Fazit für die Praxis

  • Eine suizidale Gefährdung im höheren Alter ergibt sich häufig aus komplexen Risikokonstellationen (Verwitwung, Isolation, somatische Erkrankungen, chronische Schmerzen usw.). Das offene Ansprechen von Suizidfantasien durch den Hausarzt ist geeignet, um psychiatrische Hilfe einzuleiten.
  • Depressive Erkrankungen im höheren Lebensalter sind häufig und der wichtigste Risikofaktor für Suizidhandlungen. Nicht immer wird eine depressive Verstimmung von den Betroffenen im Kontakt mit dem Hausarzt selbst thematisiert. Für eine bessere und frühere Erkennung von Depressionen und den Ausbau von Hilfsangeboten engagiert sich das Deutsche Bündnis gegen Depression. Es bietet umfangreiche Informationsmaterialien unter http://www.buendnis-depression.de
  • Wichtige Informationen zur Suizidprävention finden sich unter www.suizidprophylaxe.de
  • Angehörige von Suizidopfern finden Unterstützung in Selbsthilfegruppen: http://www.agus-selbsthilfe.de

Literatur:
1) Flüchter P, Müller V, Pajonk FG (2012) Suizidalität: Prozedere im Notfall. Medizinische Klinik – Intensivmedizin und Notfallmedizin 107: 469-475
2) Liu I& Chiu C (2009) Case-control study of suicide attemps in the elderly. Int Psychogeriatr 21: 896-902
3) Rubenowitz E, Waern M, Wilhelmson K, Allebeck P (2001) Life events and psychosocial factors in elderly suicides – a case-control study. Psychol Med 31: 1193-1202
4) Schmidtke A, Sell R, Löhr C (2008) Epidemiologie von Suizidalität im Alter. Z Gerontol Geriat 41: 3-13
5) Supprian (2011) Frühdiagnostik der Demenzerkrankungen. Kohlhammer Verlag. Stuttgart.
6) Wiktorsson S, Runeson B, Skoog I, Östling S, Waern M (2010) Attempted suicide in the elderly: characteristics of suicide attempters 70 years and older and a general population comparison group. Am J Geriatr Psychiatry 18: 57- 67



Autor:

Prof. Dr. med. Tillmann Supprian

Florence Hellen
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, LVR-Klinikum Düsseldorf, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
40629 Düsseldorf

Interessenkonflikte: Die Autoren haben keine deklariert.



Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2016; 38 (9) Seite 36-38