Kein Auszahlschein mehr bei der AU, weniger Bürokratie beim Reha-Antrag und 5 Pflegegrade statt 3 Pflegestufen bei der Pflegeversicherung: Ein Überblick über aktuelle und bevorstehende Änderungen in der Sozialmedizin.

Neue Serie Sozialmedizin
Unsere neue Serie zur Sozialmedizin greift Fragen auf, mit denen der Hausarzt täglich konfrontiert wird: Arbeitsunfähigkeit, Rehabilitation und Rente, Behinderung, Pflege- und Unfallversicherung, Haushaltshilfe und Hilfsmittel. Als Einstieg behandelt dieser Beitrag Neuerungen in den Bereichen AU, Rehabilitation, Haushaltshilfe und Pflegeversicherung.

Die Sozialmedizin findet bei Studenten in der Regel kein großes Interesse, die Hörsaalreihen lichten sich meist schnell. Auch in der Ausbildung zum Facharzt hat die Sozialmedizin keinen großen Stellenwert, und erst langsam bahnen sich in der allgemeinmedizinischen Ausbildung sozialmedizinische Themen einen Weg.

In krassem Gegensatz dazu steht, dass in der täglichen Praxis sozialmedizinische Kenntnisse ständig benötigt werden: Wie ist die Arbeitsunfähigkeit bei "Hartz-IV"-Empfängern zu werten, besteht nach einer Gastroskopie Arbeitsunfähigkeit, in welchen Fällen hat der Patient Anspruch auf eine Haushaltshilfe, ist die Pflegestufe korrekt?

Einige grundlegende Kenntnisse sollen im Folgenden vermittelt und hierbei aktuelle Entwicklungen berücksichtigt werden.

Arbeitsunfähigkeit (AU)

AU besteht, sofern die zuletzt ausgeübte Tätigkeit gesundheitsbedingt nicht mehr oder nur unter der Gefahr der Verschlimmerung durchgeführt werden kann. Bei Beziehern von Arbeitslosengeld gilt der allgemeine Arbeitsmarkt (also, ob leichte körperliche Tätigkeiten noch durchgeführt werden können). Zu berücksichtigen ist dabei auch, ob der Kranke eine Ganz- oder Halbtagsstelle sucht – dies müssen wir also erfragen. Bezieht der Patient Arbeitslosengeld II ("Hartz-IV"), so besteht nur dann AU, wenn er nicht mindestens 3 Stunden leichte Tätigkeit durchführen oder an Schulungsmaßnahmen teilnehmen kann. Der Auszahlschein ist zum 1.1.16 abgeschafft, das abgeänderte AU-Formular gilt nun die gesamten 78 Wochen des Krankengeldbezuges. Hinzugekommen sind zum Formular die Felder "ab 7. AU-Woche" und "Endbescheinigung", außerdem kann nun angekreuzt werden, ob eine medizinische Rehabilitationsmaßnahme oder die stufenweise Wiedereingliederung angezeigt ist.

Neu ist auch ein 3. Durchschlag, welcher dem Patienten auszuhändigen ist. Was dieser damit macht, bleibt ihm überlassen. Einige Patienten legen ihn dem Arbeitgeber während des Krankengeldbezuges vor, um weiterhin die AU zu belegen. Einige Arbeitgeber verlangen dies sogar vom Patienten.

KEINE Arbeitsunfähigkeit wird begründet:

  • Bei Betreuung eines erkrankten Kindes. Dann ist das Muster 21 ("Kinder-AU") auf den Namen des Kindes auszustellen. Hier stehen max. 10 Tage pro Elternteil und Kalenderjahr zur Verfügung. Dies gilt nur bei gesetzlich versicherten Kindern. Ist das Kind privat versichert, muss der entsprechende Elternteil Urlaub nehmen. AUSNAHME: Laut Tarifvertrag ist von Ärzten 4 Tage Kinder-AU vom Arbeitgeber auch bei privat versicherten Kindern zu tragen (ohne Ausgleich durch die Krankenkasse über Umlage U1 wie bei der Kinder-AU).
  • Während der Inanspruchnahme von Heilmitteln. Sollten Heilmittel nur während der Arbeitszeit angewandt werden können, kann hierfür keine AU-Bescheinigung erstellt werden; der Patient muss mit dem Arbeitgeber klären, wie die Fehlzeit ausgeglichen wird.
  • Für Behandlung oder Diagnostik, wenn die Maßnahmen selbst nicht zu einer AU führen. Beispiel Gastroskopie:
  • - Untersuchung ohne Sedierung: Keine AU, Pat. kann vor und nach der Untersuchung arbeiten.
  • - Untersuchung mit Sedierung: AU, da Pat. wegen der Sedierung nicht mehr arbeiten darf.

  • Kosmetische Operationen. Für die Operation selbst und die Zeit danach, in der üblicherweise nicht gearbeitet werden darf, muss der Patient Urlaub nehmen. Treten Komplikationen ein, so ist während der darüber hinausgehenden Zeit AU zu attestieren.
  • - Beispiel: Fettabsaugung am Abdomen. Normalerweise soll Pat. 10 Tage nach der Operation nicht arbeiten. Treten große Hämatome auf, die die Arbeitsaufnahme unmöglich machen, so ist ab dem 11. Tag AU auf Muster 1 zu attestieren.

  • Beschäftigungsverbot
  • - Nach Infektionsschutzgesetz (IfSG) dürfen an bestimmten Infektionskrankheiten Erkrankte oder Ausscheider bestimmter Erreger nicht mit Herstellung, Behandlung oder Inverkehrbringen von Lebensmitteln betraut werden. Das Gehalt erhält der Patient vom Arbeitgeber, der dies von der entsprechend Landesrecht vorgeschriebenen Stelle zurückerhält (in Baden-Württemberg z. B. vom Gewerbeaufsichtsamt).
  • - Nach Mutterschutzgesetz dürfen Mütter einer Vielzahl von Risiken nicht ausgesetzt werden, ansonsten ist ein Beschäftigungsverbot auszusprechen. Der Arbeitgeber erhält das weiterzuzahlende Gehalt aufgrund der Umlage U2 von der Krankenkasse zurück.

Rehabilitation

Zum 1.4.16 wird das bisherige Muster 60, der "Antrag auf den Antrag" einer Rehabilitationsmaßnahme, entfallen. Weiterhin entfällt die Notwendigkeit eines Kurses, um das Muster 61, den eigentlichen Antrag also, auszufüllen. Nun wird wieder jedem Arzt zugetraut, dass er einen Rehabilitationsantrag ausfüllen kann. Das Muster 61 enthält weiterhin die Seiten A–D.

Die Seite A muss nur dann ausgefüllt werden, wenn unklar ist, wer der Kostenträger der geplanten Maßnahme ist. In der Regel ist es offensichtlich, wer zuständig ist. Bei Zuständigkeit der Krankenkasse entfällt das Blatt A.

  • Für den Rehabilitationsantrag ist nicht das diagnosebasierte Gedankengut des ICD-10 grundlegend, sondern die auf Fähigkeiten und Fähigkeitsstörungen konzentrierte Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF). Wenn der Gutachter den Antrag liest, sollte er sich den Patienten vorstellen und die Reha-Notwendigkeit unmittelbar nachvollziehen können.
  • Möglichst sollten "Funktionsdiagnosen" eingetragen werden, z. B.
  • - Lumboischialgie bds. mit eingeschränkter Gehstrecke und Ruheschmerz bei Spinalkanalstenose LWK 3–5
  • - Dysthymie mit ausgeprägter Schlafstörung, Antriebsschwäche u. soz. Isolation.

  • Die Kontextfaktoren sollten möglichst ausführlich dargestellt werden, z. B.
  • - persönlich/familiär: Kinder wohnen weit weg; Wohnung auf 3 Etagen verteilt; kein Aufzug im Haus; Neigung zu besserwisserischen Äußerungen; Ärger mit allen Nachbarn; kümmert sich als einzige Tochter um ihren Vater
  • - beruflich/schulisch: Schulsituation wird als "Mobbing" empfunden; kein Verständnis des Arbeitgebers für hohe berufliche Belastung; hoher Zeitdruck
  • - soziales Umfeld: wenig soziale Kontakte; Umzug in neuen Wohnort, hier keine Bekannten; Hilfe des Pflegepersonals wird nicht angenommen.

  • Die Rehabilitationsziele lassen erkennen, dass Sie sich Gedanken gemacht haben, welchen Zweck die Reha haben soll. Es ist sinnvoll, hier konkrete UND erreichbare Ziele anzugeben, z. B.
  • - Schädigungen: Steigerung der Gehstrecke und Beweglichkeit, Schmerzminderung, Antriebssteigerung, Schlafnormalisierung, Minderung von Grübelzwang
  • - Aktivitäten und Teilhabe: Einkauf selbstständig möglich, Haushalt wieder selbst erledigen, Unternehmung mit Gemeinde, mehr Kontakt mit Enkeln
  • - Negative Kontextfaktoren: Akzeptanz der Hilfe durch Sozialdienst, Integration in betreutes Wohnen, besserer Familienkontakt.

Haushaltshilfe

Haushaltshilfe ist im § 38 des Sozialgesetzbuchs V geregelt. Die Anspruchsvoraussetzungen sind hier sehr eng gefasst. Aber die Krankenkassen haben die Möglichkeit, per Satzung zusätzliche Leistungen anzubieten. Auf diesem Gebiet findet daher Konkurrenz statt mit der Folge, dass jede Krankenkasse ihre eigenen Regelungen hat. Wir Ärzte können dies nicht überblicken, hier ist der Patient in der Pflicht, sich bei seiner Krankenkasse nach den entsprechenden Leistungen zu erkundigen.

Laut Gesetz besteht Anspruch auf Haushaltshilfe bei Krankenhausbehandlung, stationärer Vorsorgekur und Rehabilitationsmaßnahmen. Voraussetzung ist ein im Haushalt lebendes Kind unter 12 Jahren. Gestellt wird eine Haushaltshilfe. Alternativ können auch die Kosten für eine selbstbeschaffte Hilfe erstattet werden, allerdings nicht bei Verwandten oder Verschwägerten bis zum 2. Grad. Eine Ausnahme ist hiervon, wenn diese Hilfe einen Verdienstausfall hat. Die Kostenerstattung ist maximal bis zur Höhe einer professionellen Haushaltshilfe möglich.

  • Beispielsweise kann ein Ehemann, wenn seine Frau erkrankt, unbezahlten Urlaub nehmen und sich um Haushalt und Kind kümmern. Er erhält dann seinen Verdienstausfall erstattet, aber maximal in der Höhe einer professionellen Kraft.

Jede Krankenkasse hat hierfür eigene Formulare entwickelt. Die Satzung vieler Kassen ermöglicht auch Haushaltshilfe bei Krankheiten, die ambulant behandelt werden, bei Haushalten ohne Kinder und über einen Zeitraum bis zu einem Jahr. Der häufige Wunsch nach Ausstellen einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für den Lebensgefährten muss natürlich abgelehnt werden.

Pflegeversicherung

Im Pflegestärkungsgesetz II wurde ein neuer Pflegebegriff eingeführt, der den somatischen und psychischen Hilfebedarf gleich bewertet. Die Hauswirtschaft kommt als "3. Säule" hinzu. Ab dem 1.1.17 wird es statt 3 Pflegestufen 5 Pflegegrade geben, wobei eine automatische Überleitung in die nächsthöhere bzw. zweithöhere Stufe stattfindet. Für die Einstufung werden dann keine Minuten mehr gezählt. Neu ist, dass die Funktionseinschränkung in verschiedenen Fähigkeitsbereichen nach einem Punktesystem bewertet und je nach erreichtem Punktwert der Pflegegrad bestimmt wird. In der stationären Pflege bleibt die Zuzahlung durch den Patienten in den Pflegegraden 2 bis 5 identisch. So haben die Angehörigen keinen Anlass mehr, sich gegen eine eigentlich notwendige Höherstufung, die das Heim vorschlägt, zu wehren.



Autor:

Dr. med. Jürgen Herbers

Facharzt für Allgemeinmedizin, Sozialmedizin, Sportmedizin, Ernährungsmedizin (DAEM/DGEM), Naturheilverfahren und Palliativmedizin
74385 Pleidelsheim

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2016; 38 (7) Seite 62-64