Sexuelle Probleme treten mit einer Lebenszeitprävalenz von 20 % relativ oft auf. Dennoch wird das Thema Sexualität und Sexualstörungen in der klinischen Praxis oft weitgehend ausgeklammert. Erhebungen haben ergeben, dass Patienten sehr wohl mit ihrem Vertrauensarzt über sexuelle Probleme reden würden, wobei aber die Initiative vom Arzt ausgehen muss. Die Kenntnis dieser Problematik, das Reden darüber und die entsprechenden Reaktionen darauf sind wichtig für die Zufriedenheit des Patienten und die Compliance.

Sexualität hat bei Menschen mehrere Funktionen, wobei diese in einer engen Wechselbeziehung zueinander stehen [1]:

  • Fortpflanzungsdimension: Aufgrund der sicheren Kontrazeptionsmethoden spielt dieser Aspekt im Leben der Menschen nur mehr punktuell eine wichtige Rolle.
  • Lustdimension: Sexualität ermöglicht einen besonderen Lustgewinn.
  • Beziehungsdimension: Die Sexualität gibt vielen Beziehungen einen speziellen Charakter und dient der Befriedigung grundlegender psychosozialer Bedürfnisse nach Nähe, Geborgenheit usw.

Dieser Bedeutung der Sexualität im Leben der meisten Menschen wird der Stellenwert der Sexualität bzw. von Sexualstörungen in der Medizin nicht gerecht. Das Wissen der Ärzte bezüglich Sexualität und Sexualstörungen ist eher mangelhaft entwickelt. Dabei ist aus Umfragen bekannt, dass die meisten Patienten sehr wohl über diese Probleme im Bereich der Sexualität reden würden, wenn sie vom Arzt darauf angesprochen werden. Das Nicht-Ansprechen von ärztlicher Seite vermittelt aber den Patienten das Gefühl, über dieses Pro-
blem mit dem Arzt nicht reden zu können, weil dieser nicht will, nicht kann, kein ausreichendes Wissen hat, selbst zu gehemmt ist usw.

Sexualität als Teil der Anamnese

Das Thema "Sexualität" sollte bei jedem Patienten, auch solchen mit psychischen Störungen, selbstverständlicher Teil einer umfassenden Anamnese sein.

Die meisten Patienten erwähnen sexuelle Störungen nicht sofort von sich aus und müssen vom Arzt mit entsprechender Empathie darauf angesprochen werden.

Ein Vertraut-Sein mit dem Thema Sexualität, die Fähigkeit, selbst angstfrei und offen über Sexualität reden zu können (Modellfunktion des Arztes), und die Fähigkeit, sachlich auch auf ungewöhnliche Patientenäußerungen und sexuelle Praktiken reagieren zu können, sind Voraussetzung für das Gespräch.

Zu achten ist auf eine von Vorurteilen freie Atmosphäre, damit die Betroffenen unbelastet ihre sexuellen Probleme und Ängste darlegen können, ohne Moralisierung.

Sexualstörungen

In der klinischen Praxis werden Ärzte am ehesten mit den folgenden sexuellen Problemen konfrontiert:

  • Sexuelle Funktionsstörungen: Diese sind Beeinträchtigungen im sexuellen Verhalten, Erleben und in den physiologischen Reaktionsweisen (sexuelles Verlangen, sexuelle Erregung, Orgasmus) und behindern eine für beide Partner befriedigende sexuelle Interaktion, obwohl die organischen Voraussetzungen vorhanden sind.
  • Psychische Erkrankungen als Ursache für sexuelle Probleme.
  • Sexuelle Nebenwirkungen von Medikamenten (vor allem Psychopharmaka).

Frauen klagen am häufigsten über mangelnde sexuelle Appetenz, Anorgasmie und Dyspareunie, während Männer am ehesten über eine frühzeitige Ejakulation und Erektionsprobleme klagen. Nur ein kleiner Teil der Patienten mit einer sexuellen Funktionsstörung benötigt eine spezielle Sexualtherapie. Bei den meisten genügt eine allgemein psychotherapeutische Kompetenz, d. h. Kenntnisse in den biologischen, psychologischen und sozialwissenschaftlichen Grundlagen menschlicher Sexualität [2]. Auch ist ein gewisser Leidensdruck beim Symptomträger oder beim Paar notwendig, um eine diagnostische Abklärung und Behandlung durchführen zu lassen.

Folgendes diagnostische Vorgehen ist beim Vorliegen einer sexuellen Funktionsstörung zu empfehlen:

  • Erziehungs- und Beziehungserfahrungen
  • Problembeschreibung: Was ist das Problem? Welche Erklärung hat der Patient/die Patientin bzw. das Paar für das sexuelle Problem?
  • Problemanalyse: Welches sind die aufrechterhaltenden Gründe für die heutige Existenz des Problems?
  • Analyse der zu erreichenden Beratungs- und Behandlungsziele: Was soll durch die Beratung bzw. Therapie erreicht werden?
  • Interventionen: Welche Verfahren können in welcher Reihenfolge zu den gesetzten Therapiezielen führen?

Anamnestisch sind folgende Erziehungs- und Beziehungserfahrungen wichtig:

  • Erfassung der familiären Umwelt in der Kindheit und Jugend (z. B. Sexualerziehung, Umgang mit Sexualität und Freizügigkeit).
  • Sexuelle Lerngeschichte (z. B. erste positive und negative Sexualerfahrungen; Erfahrungen mit Selbstbefriedigung und Geschlechtsverkehr).
  • Sexuelle Lerngeschichte in Partnerbeziehungen (z. B. wie viele, welche Dauer; Zufriedenheit mit der eigenen Sexualität, Schwangerschaften, Geburten, Abtreibungen).
  • Gegenwärtige Beziehung (z. B. Dauer, Treue, Eifersucht, Ängste; außerpartnerschaftliche Beziehungen; sexuelles und nichtsexuelles Kommunikationsverhalten).

In den meisten Fällen reicht eine differenzierte Sexualberatung aus. Häufige Beratungsthemen sind:

  • Informationslücken: meist von Idealvorstellungen geprägt (besonders bei Männern).
  • Fehlendes Wissen über physiologische Abläufe, wie z. B. unterschiedlicher Verlauf des sexuellen Reaktionszyklus bei Mann und Frau (bei Frauen viel variabler; taktile vs. visuelle Reize).
  • Mangelnde Kenntnis über altersbedingte Veränderungen.
  • Fehlendes Wissen über geschlechtsspezifisch unterschiedliches Erleben von Sexualität.
  • Veränderungen des Sexualverhaltens in längeren Partnerschaften.
  • Phallische Mythen (z. B. Größe des Penis).
  • Koitushäufigkeit: variiert außerordentlich.
  • Erstes Erleben eines Orgasmus: bei Frauen meist erst nach längerer Sexualerfahrung.
  • Selbstbefriedigung: Frauen erleben leichter einen Orgasmus, wenn bereits Erfahrungen damit bei Selbstbefriedigung bestanden.
  • Aufklärung über die Auswirkungen von körperlichen und psychischen Erkrankungen und von Medikamenten auf die Sexualität.

Eine spezifische Sexualtherapie ...

... ist notwendig, wenn:

  • die sexuelle Problematik länger als ein halbes Jahr besteht;
  • ein deutliches Vermeiden sexueller Situationen oder starke Versagensängste vorliegen;
  • seit längerem Partnerprobleme durch das sexuelle Symptom bestehen;
  • einige Sitzungen Sexualberatung keine Änderung erbracht haben.

Psychische Störungen und ihre Auswirkungen auf die Sexualität

Vor allem Depressionen haben negative Auswirkung auf das sexuelle Erleben und Verhalten (in 30–80 % der Fälle wird die Sexualität reduziert). Dabei sind vielfältige Wechselwirkungen zwischen der Depression und der Sexualität möglich:

  • Typische Symptome der Depression wie Apathie, Antriebsstörung, Freud- und Interesselosigkeit haben eine besonders negative Auswirkung auf das sexuelle Verlangen und die sexuelle Aktivität (Störung der Sexualität kann erstes Symptom der Depression sein).
  • Depressionen führen oft zu Beeinträchtigungen des Hormonstoffwechsels (z. B. Testosteron).
  • Die Sexualstörung beeinträchtigt oft das Selbstwertgefühl, was Niedergeschlagenheit und Depression begünstigen kann.

Die Sexualität bei schizophrenen Patienten ist:

  • Generell reduziert im Vergleich zu Normalpersonen und anderen psychiatrischen Erkrankungen (nicht nur im akuten Stadium).
  • Die Häufigkeitsraten von sexuellen Dysfunktionen liegen hier zwischen 18 und 60 %.
  • Ursachen für sexuelle Störungen sind: Persönlichkeitsstruktur des Patienten (oft paranoid), Negativsymptome der psychischen Störung (wie Anhedonie, abgestumpfte Affekte), partnerschaftliche Situation (oft keine oder eine schwierige), Psychopharmaka (oft mehrere Medikamente gleichzeitig).

Psychopharmaka und Sexualstörungen

Viele Medikamente, besonders Psychopharmaka, haben oft eine negative Auswirkung auf die Sexualität. Dabei ist es notwendig, daran zu denken und den Patienten auf die Möglichkeit der Beeinträchtigung der Sexualität durch das Medikament hinzuweisen, da eine entsprechende unerwünschte Wirkung des Medikaments sonst die Compliance des Patienten bezüglich der Einnahme des Medikaments beeinträchtigt. Sexuelle Dysfunktionen treten vor allem bei den SSRI, den trizyklischen Antidepressiva und den meisten Antipsychotika auf, weniger häufig bei Bupropion, Mirtazapin, Mianserin und Trazodon bzw. Aripiprazol.

Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen Medikamenten und sexueller Dysfunktion können sein [3]:

  • Wenn ein zeitlicher Zusammenhang zwischen der Medikation und der sexuellen Dysfunktion besteht (wichtig ist: Kenntnis der prämorbiden Sexualität, der Sexualität bei der Depression, Veränderung der Sexualität durch Psychopharmaka).
  • Wenn es Meldungen aus Forschung und Klinik gibt, dass eine sexuelle Dysfunktion bei dem verordneten Medikament nicht selten ist.
  • Wenn eine Erklärung der sexuellen Dysfunktion durch die biochemischen Mechanismen des Medikaments möglich ist.
  • Wenn die sexuelle Dysfunktion nach dem Absetzen verschwindet.
  • Wenn kein wesentlicher Anhaltspunkt für eine Psychogenese der Symptomatik (durch die Anamnese) gegeben ist.

Wenn es unter Psychopharmaka, vor allem Antidepressiva, zum Auftreten von sexuellen Funktionsstörungen kommt, empfehlen sich folgende Verhaltensweisen, wobei für das jeweilige Vorgehen der Patient unbedingt einbezogen werden sollte:

  • "Wait and see": Beobachtung des weiteren Verlaufs und Abwarten: Bei etwa 20 % kommt es zu einer kompletten Rückbildung der sexuellen Störung innerhalb von Monaten bzw. zu einer deutlichen Besserung [4].
  • "Drug holidays": Medikamentenpause für wenige Tage, sofern es die Art der Erkrankung erlaubt; ist substanzabhängig (kommt z. B. bei einem Antidepressivum mit einer langen Halbwertszeit wie bei Fluoxetin nicht infrage); oft wenig Benefit.
  • Substanzwechsel: bei Depressionen Wechsel von einem SSRI z. B. auf Bupropion, Mirtazapin oder Trazodon; bei Schizophrenie auf Aripiprazol.
  • Zugabe eines Antidepressivums mit einem anderen Wirkungsspektrum: vor allem Bupropion.
  • Verabreichung prosexueller Substanzen wie Sildenafil oder Tadalafil (bei Männern) bzw. Flibanserin (bei Frauen).
  • Bei Frauen evtl. Gabe von Östrogenen (bei Scheidentrockenheit, Libidomangel) oder Testosteron (als Pflaster).
  • Weitere Strategien mit wechselndem Erfolg: Akupunktur, Ginseng, Yohimbin.
Zusammenfassung
Folgendes ärztliche Verhalten bezüglich des Themas Sexualität und Sexualstörungen ist zu empfehlen:
  • Das Thema "Sexualität" sollte auf jeden Fall angesprochen und im Rahmen einer ausführlichen Anamnese erhoben werden.
  • Sexuelle Funktionsstörungen sind in der klinischen Praxis häufig, vor allem bei Depressionen.
  • Patienten reden von sich aus selten über sexuelle Probleme, sind aber gerne bereit, darüber zu reden, wenn der Arzt sie von sich aus darauf anspricht.
  • Viele Medikamente, vor allem Psychopharmaka, wirken sich negativ auf die Sexualität aus. Um die Compliance nicht zu beeinträchtigen, sollten diese möglichen Nebenwirkungen in der Information des Patienten erwähnt werden. Die Angst, dass durch den Hinweis auf ein mögliches sexuelles Problem ein solches induziert werden könnte, ist nicht gerechtfertigt, vielmehr kann der betreffende Patient die Störung zuordnen.
  • Eine präzise Abschätzung des Risikos für das Auftreten einer sexuellen Dysfunktion ist zurzeit nicht möglich.


Literatur
1. Beier KM, Loewit K: Praxisleitfaden Sexualmedizin. Thieme, Stuttgart – New York2011
2. Fliegel S, Brandenburg U: Sexuelle Störungen. Zeitschrift für Psychoanalyse, Spezifische Therapie und Verhaltenstherapie. Thieme, Stuttgart – New York, 2001
3. Sigusch V: Sexuelle Störungen und ihre Behandlung. Thieme, Stuttgart – New York, 2007
4. Montejo-Gonzalez AL, Llorca G, Izquierdo JA et al: SSRI-induced sexual dysfunction: fluoxetine, paroxetine, sertraline, and fluvoxamine in a prospective, multicenter, and descriptive clinical study of 344 patients. J Sex Marital Ther 23:176-194, 1887
Buddeberg C: Sexualberatung. Thieme, Stuttgart – New York, 2005



Autor:

Dr. med. Johann Kinzl

Ehemal. Direktor der Univ.-Klinik für Psychosomatische Medizin Innsbruck
A-6080 Innsbruck Igls

Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert.



Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2016; 38 (5) Seite 36-42