Ein Patient wird mit Magen-Darm-Beschwerden vorstellig – doch weder Anamnese, körperliche Untersuchung noch Labordiagnostik bringen einen pathologischen Befund. Ist die Klassifikation als "Reizdarmsyndrom" gerechtfertigt? Oder gibt es doch eine noch unerkannte, möglicherweise gefährliche andere Ursache für die Beschwerden?

Kasuistik

Anamnese: 33-jährige Patientin, Mutter, halbtags berufstätig. Beschwerden begannen nach der Geburt des ersten Kindes vor sieben Jahren. Das Symptomtagebuch bestätigt mehrmals tägliche Diarrhoen, Blähungen und Koliken nach dem Essen, Schleimbeimengung und deshalb mehrwöchige Krankschreibungen in den letzten sechs Monaten. Moderater Gewichtsverlust durch Angst vor der Nahrungsaufnahme, kein Blut im Stuhl, kein Nachtschweiß, keine Störung der Nachtruhe. Im Urlaub deutlich verringerte Stuhlfrequenz.

Diagnostik: Palpation: keine Verhärtung des Abdomens, ubiquitär leichter Druckschmerz. Rektal-digital: keine Raumforderung, normale Sphinkterfunktion. Labor: normales Routinelabor. Sonographie: vermehrt Luft, sonst keine Auffälligkeiten. Ileokoloskopie mit Stufenbiopsien: makroskopischer und mikroskopischer Normalbefund. Ösophago-Gastro-Duodenoskopie mit Duodenalbiopsien: makroskopischer und mikroskopischer Normalbefund. H2-Atemtests ohne Hinweis auf Kohlenhydratunverträglichkeiten (Laktose, Fruktose, Sorbitol) oder bakterielle Fehlbesiedlung des Dünndarms. Gynäkologische Untersuchung ebenfalls unauffällig.

Therapie: Zunächst deutliche Besserung der Beschwerden durch den Einsatz von Loperamid und Butylscopolamin. Im Verlauf dann erneute Zunahme der Symptome, insbesondere der Blähungen, die dann unter einer mehrwöchigen Low-FODMAP-Diät gut gelindert werden konnten.


Früher meist als irritables Kolon/Colon irritabile bezeichnet, gehört das Reizdarmsyndrom (RDS) zu den häufigsten Erkrankungen des Magen-Darm-Traktes. Die Krankheit ist durch Bauchbeschwerden wie Blähungen und Schmerzen und/oder Stuhlgangsveränderungen (Obstipation, Diarrhoe, nicht selten beides) gekennzeichnet. Bei der routinemäßig verfügbaren Diagnostik werden keine wegweisenden Befunde erhoben. Deswegen und weil viele Patienten einen erheblichen Leidensdruck haben und sich sorgen, an einer ernsthaften, aber verborgenen somatischen Erkrankung zu leiden [1], wird das Management des RDS oft als schwierig und unbefriedigend empfunden.

Warum Reizdarmsyndrom?

Wegen der bis heute nicht vollständig bekannten Pathogenese und der variablen Symptomatik war das RDS in der Vergangenheit häufig mit dem Stigma einer harmlosen psychosomatischen Störung ohne relevanten Krankheitswert behaftet. Man nahm an, dass sogenannte Lifestyle-Faktoren wie falsche Ernährung, Bewegungsmangel oder Alltagsstress die Auslöser sind. Hier hat sich inzwischen ein fundamentaler Paradigmenwechsel vollzogen: Auch wenn weiterhin kein spezifischer Biomarker etabliert werden konnte, sind heute doch verschiedene, interagierende Pathomechanismen bekannt, unter anderem Veränderungen der gastrointestinalen Motilität, der viszeralen Sensitivität und der neuronalen Regulation der Darm-Gehirn-Achse. Außerdem wurden Veränderungen im Mikrobiom oder der enterodendritischen Zellen beobachtet, die zu einer Störung der intestinalen Barriere führen [6]. In mehreren Studien wurde auch der hohe Krankheitswert des RDS belegt. Die Lebensqualität ist zum Teil stärker beeinträchtigt als bei Patienten mit Diabetes oder chronischer Niereninsuffizienz [3].

Diagnosekriterien

Die Symptomatik des Reizdarmsyndroms ist variabel, unspezifisch und mit anderen somatischen und funktionellen Erkrankungen überlappend [2]. Um das RDS in der Praxis von banalen Verdauungsbeschwerden und schweren somatischen Erkrankungen abzugrenzen, sollten die Diagnosekriterien der aktuellen deutschen S3-Leitlinie [5] herangezogen werden:

Chronizität: Die Darmbeschwerden bestehen länger als drei Monate. Cave: bei kürzerer Anamnese grundsätzlich eher eine "organische" Ursache annehmen!

Relevanter Leidensdruck: Die Lebensqualität des Patienten wird so stark eingeschränkt, dass er wegen der Beschwerden bei einem Arzt vorstellig wird. Umgekehrt: geringe, nur wenig belastende Befindlichkeitsstörungen "qualifizieren" nicht für die Diagnose.

Ausschluss von Differenzialdiagnosen: Die Diagnose Reizdarmsyndrom ist erst zu stellen, nachdem abgeklärt ist, dass keine für andere Krankheitsbilder charakteristischen Veränderungen vorliegen, die wahrscheinlich für die Symptome verantwortlich sind.

Anamnese als Basis

Eine sorgfältige Anamnese ist die Grundlage für Diagnostik und Therapie des RDS. Um die Angaben der Patienten zu objektivieren, sollten die einzelnen Beschwerdeangaben zunächst quantifiziert werden, gegebenenfalls mit Hilfe eines Symptomtagebuchs. Orientierend sollte außerdem eine einfache psychosomatische Anamnese erfolgen. Die Symptome des RDS sind variabel, oft stehen Veränderungen der Stuhlfrequenz oder -konsistenz im Vordergrund, auch Bauchschmerzen, Blähungen, Flatulenz und Meteorismus zählen zu den typischen Beschwerden. Hinzu kommen oft extraintestinale Symptome unterschiedlicher Schwere. Zur weiteren Diagnostik und Therapie hilft eine Einordnung des Beschwerdebilds in die RDS-Subtypen (vgl. Tabelle 1).

Vorsicht bei Alarmzeichen

Um die Diagnose Reizdarmsyndrom stellen zu dürfen, muss differenzialdiagnostisch abgesichert werden, dass keine andere Erkrankung Ursache der Beschwerden ist. In der Anamnese sollte immer gezielt erfragt werden, ob einige charakteristische Warnsignale vorliegen (Übersicht 1). Ist das der Fall, muss die Arbeitsdiagnose immer eine strukturelle Störung sein (Tabelle 1). Besonders bei Beschwerdedauern von weniger als zwölf Monaten müssen gas-trointestinale und gynäkologische Tumoren in Betracht gezogen werden [4].

Aufklären und führen

Wenn alle relevanten Differenzialdiagnosen ausgeschlossen wurden, ist dem Patienten gegenüber die positive Diagnose RDS zu stellen. Die Betroffenen haben meist hohen Aufklärungsbedarf, und im Gespräch sollte ein plausibles Krankheitsmodell vermittelt werden (Abb. 1). Dabei sollte man betonen, dass weder mit einer verringerten Lebenserwartung noch mit Folgeschäden zu rechnen ist. Eine vertrauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung ist die Voraussetzung für die sinnvolle Koordination von probatorischen Therapien und verhindert "Ärztehopping" von Patienten, die sich nicht ausreichend betreut fühlen.

Symptomorientierte Therapie

Die therapeutischen Optionen für das Reizdarmsyndrom sind ebenso breit gefächert wie unzureichend (Übersicht 2). Bisher gibt es keine Möglichkeit, RDS ursächlich zu behandeln. Je nach Schwere und Art der Beschwerden kommen zur symptomorientierten Therapie Allgemeinmaßnahmen, insbesondere das Meiden möglicher Trigger-Faktoren, zur Anwendung, ergänzt durch medikamentöse Therapien. Wichtig: Keine Maßnahme wirkt grundsätzlich bei jedem Patienten, daher ist jeder Therapieansatz primär probatorisch.

Zur Behandlung der Obstipation können klassische Laxantien, bevorzugt Makrogole, in speziellen Fällen auch Prucaloprid, eingesetzt werden. Bei Diarrhoe können Loperamid, ggf. auch Colestyramin versucht werden. Für Schmerzen ist eine gute Wirksamkeit für den Einsatz von Spasmolytika wie Butylscopolamin, Mebeverin oder Pfefferminzöl belegt. Bei Therapie-refraktären Blähungen kann das topisch wirkende Antibiotikum Rifaximin eingesetzt werden, für das eine gute Studienlage beim RDS existiert, jedoch keine Zulassung in dieser Indikation besteht. Die Einnahme von Antidepressiva kann bei Schmerzen und insbesondere bei begleitenden psychischen Komorbiditäten erfolgversprechend sein, wobei die substanzielle Nebenwirkungsrate zu berücksichtigen ist.

Moderne RDS-Therapieansätze sind zum Teil zur Behandlung mehrerer Symptome geeignet. So ist für den Guanylatcyclase-C-Aktivator Linaclotid eine sehr gute Wirksamkeit bei der Behandlung sämtlicher Symptome des RDS-O belegt. Linaclotid ist in Deutschland zwar zugelassen, wird hier aber derzeit nicht vertrieben und kann nur aus dem europäischen Ausland importiert werden. Gute Evidenz bei RDS-O gibt es auch für die Wirksamkeit des Sekretagogons Lubiproston, was aber bislang nicht in Deutschland zugelassen ist.

Zur Behandlung der Symptomvielfalt des RDS-D gibt es gute Belege für eine gute Wirksamkeit von 5-HT3-Antagonisten, wie z. B. Alosetron, Ramosetron, Cilansetron oder Ondansetron. Von diesen Substanzen ist einzig Ondansetron in Deutschland zugelassen, allerdings nicht in der Indikation RDS. Auch vor dem Hintergrund der zwar sehr seltenen, aber potenziell schwerwiegenden Nebenwirkung einer ischämischen Kolitis ist dies nur eine Therapieoption in schweren, anderweitig therapierefraktären Fällen.

Ernährung

Neben medikamentösen Therapien können auch Ernährungsumstellungen erwogen werden, die in der Regel mit geringem Risiko für Nebenwirkungen verbunden sind und meist von den Patienten dankbar angenommen werden. So kann bei Obstipation zunächst die Ballaststoffzufuhr erhöht werden. Dies reguliert vielfach erfolgreich den Stuhlgang, birgt jedoch das Risiko von verstärkten Blähungen und Schmerzen. Bei ergänzenden Ballaststoff-Präparaten ist die beste Verträglichkeit für Quellstoffe wie Flohsamen belegt. Umgekehrt profitieren manche Patienten aber auch von einer Verminderung der Ballaststoffe in der Ernährung.

Aufwendiger ist eine Ernährungsumstellung im Sinne einer probatorischen glutenfreien Diät oder der sogenannten Low-FODMAP-Diät, die in klinischen Studien sowohl in Bezug auf Blähungen als auch auf die Stuhlfrequenz und -konsistenz Erfolge zeigten. Das Low-FODMAP-Konzept sieht vor, über einen begrenzten Zeitraum gezielt fermentierbare und osmotisch aktive Kohlenhydrate wie Laktose, Fruktose, Fructooligosaccharide, Galactooligosaccharide und Polyole in der Nahrung zu reduzieren [7]. Diese teils sehr einschränkenden Diätformen sollten zumindest in strenger Form nur für einen Zeitraum von wenigen Wochen durchgeführt werden, da sich sonst möglicherweise das Darm-Mikrobiom nachhaltig verändern könnte.

Ebenfalls im Bereich des Mikrobioms ist die Therapieoption der Probiotika angesiedelt. Auch wenn wenig über die spezifischen Wirkungsmechanismen bekannt ist, gibt es einige Patienten, die von einer mehrwöchigen Probiotikagabe profitieren. Einschränkend ist zu sagen, dass man bisher nicht sicher zuordnen kann, welche probiotischen Stämme bei welchen Symptomen oder Patienten am besten einzusetzen wären.


Literatur
1. Andresen, V. et al., 2013. Reizdarmsyndrom- Herausforderung in der täglichen Praxis. Thieme Praxis Report, Jun, pp. 1-16.
2. Andresen V et al, An exploration of the barriers to the confident diagnosis of irritable bowel syndrome: A survey among general practitioners, gastroenterologists and experts in five European countries. United Europ Gastroenterol J. 2015; 3: 39-52
3. Gralnek, I. et al., 2000. The impact of irritable bowel syndrome on healt-related quality of life. Gastroenterology, Sept, pp. 654-660.
4. Layer, P. et al., 2011. S3-Leitlinie Reizdarmsyndrom: Definition, Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie. Gemeinsame Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Verdauungs-und Stoffwechselkrankheiten und der Deutschen Gesellschaftfür Neurogastroenterologie und Motilität. Z Gastroenterol , Feb, p. 237–293.
5. Layer, P., Keller, J. & Andresen, V., 2011. Diagnosestellung und Diagnostik. In: I. M. Publishers, Hrsg. Das Reizdarmsyndrom-Pathogenese, Diagnostik und Therapie. Bremen: UNI-MED, pp. 30-40.
6. Lee, Y. & Park, K., 2014. Irritable bowel syndrome: emerging paradigm in pathophysiology. World J Gastroenterol, March, pp. 2456-2469.
7. Marsh, A., Eslick, E. & Eslick, G., 2015. Does a diet low in FODMAPs reduce symtpoms associeted with funktional gastrointestinal disorders? A comprehensive systematic review and metaanalysis. Eur J Nutr, May, p. Epub ahead of print.



Autor:

Prof. Dr. med. Peter Layer

Israelitisches Krankenhaus
Medizinische Klinik
22297 Hamburg

Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert.



Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2016; 38 (4) Seite 12-15