Die Behandlung von Patienten mit Kreuzschmerzen in Deutschland ist verbesserungswürdig. So werden auf der einen Seite nicht aktivierende Maßnahmen (Schonung), auf der anderen Seite interventionelle Therapie (Operationen) zu häufig angewandt. Im folgenden Beitrag sollen Voraussetzungen, Ziele und Inhalte einer multimodalen Schmerztherapie vorgestellt werden.
Kasuistik
Ein 44-jähriger Bierbrauer klagt seit neun Monaten über lumbale Rückenschmerzen, seit sieben Monaten ist er arbeitsunfähig. Er war bereits bei drei Orthopäden in Behandlung, hat siebenmal kortikoidhaltige Spritzen, dreimal Manualtherapie und Physiotherapie für sechs Wochen (ohne "Hausaufgaben") erhalten. Zwei Neurochirurgen haben eine Operation empfohlen.
Aktueller neuroorthopädisch-funktioneller Befund: Lasègue/Kemp/Slump negativ. Piriformis-Zeichen re. positiv. Springing-Test re. lumbal positiv. Keine sensomotorischen Defizite. MER seitengleich mittellebhaft.
Jetziger psychischer Befund: Affekt deutlich gedrückt, Antrieb/Psychomotorik gemindert.
MRT LWS: blande degenerative Veränderungen, Bandscheiben-Protrusion L4/5 ohne Neuroforamenstenose.
In Deutschland können 15 % aller Arbeitsunfähigkeitstage, 18 % aller Frühberentungen und 6 % aller direkten Krankheitskosten auf "Kreuzschmerzen" zurückgeführt werden [14]. Mit steigendem Chronifizierungsgrad vervielfachen sich oft die Kosten [16]. Ebenso führen komorbide psychische Erkrankungen und eine neuropathische Schmerzkomponente zu einem disproportionalen Kostenanstieg [2].
Stärkster Prädiktor der Chronifizierung von Rückenschmerzen ist die depressive Verstimmung [6]. Darüber hinaus wird vor allem mal-adaptiven Coping-Strategien wie ängstlicher Bewegungsvermeidung (Kinesiophobie, fear avoidance behaviour), aber auch Durchhaltestrategien trotz zunehmender Erschöpfung ein großer Einfluss auf die Chronifizierung bescheinigt [3]. Bei der Identifizierung eines chronifizierenden Krankheitsverlaufs können standardisierte Fragebögen hilfreich sein. Zusätzliche "Yellow Flags" sind geringe Arbeitszufriedenheit, niedriger sozialer Status, passiver Lebensstil, Katastrophisierungsneigung und belastende Lebenserfahrungen (vgl. Tabelle 1). Selbstkritisch ist in diesem Zusammenhang auch an eine iatrogene Schmerzchronifizierung zu denken, die durch schlechte Kommunikation ("Ihre Wirbelsäule ist kaputt") und Nozebo-Effekte induziert ist [11].
Interventionismus
Seit mehreren Jahren sind massive Zuwächse operativer Interventionen bei Rückenschmerzen in Deutschland im Gegensatz zu europäischen Nachbarländern bekannt, die zunehmend auch von Kostenträgern thematisiert und in der Laienpresse (z. B. Spiegel) aufgegriffen werden. In den USA ging eine ähnliche Entwicklung mit einer Zunahme der Mehrkosten und Komplikationen, jedoch nicht mit einem belegbaren Gewinn an Lebensqualität einher [5]. In einem von der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin angestoßenen Projekt zur Integrierten Versorgung von Rückenschmerzen (IV-Z und IV-R), das bei gestellter Operationsindikation wegen Rückenschmerzen die Einholung einer Zweitmeinung durch einen Schmerzspezialisten vorsieht, wurde in etwa 89 % die Indikation zur Operation bezweifelt, lediglich in etwas über 10 % bestätigt [15].
Die verfügbaren Daten zur Realität der Versorgung von Rückenschmerzpatienten zeigen ein Überwiegen nicht-aktivierender Maßnahmen wie körperliche Schonung, Massage, Akupunktur und IGeL-Leistungen [7]. Gleichzeitig weist die Leitlinie zur Langzeitanwendung von Opioiden bei nicht-tumorbedingten Schmerzen (LONTS) auf die sehr dünne Datenlage für eine langfristige Verordnung von Opiaten hin (www.awmf.org).
Nationale Versorgungsleitlinie (NVL) Kreuzschmerz
Die im März 2010 nach einem längeren Konsensusprozess veröffentlichte Nationale Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz, die gemeinsam von der AWMF, der KBV und der Bundesärztekammer herausgegeben wurde, beschreibt in der Langfassung auf 177 Seiten Definition, Epidemiologie, Diagnostik, Therapie, Prävention und Rehabilitation akuter und chronischer Rückenschmerzen (www.kreuzschmerz.versorgungsleitlinien.de). Sie bietet ein einfaches gestuftes Therapiekonzept, das sowohl für akute als auch für chronische Rückenschmerzen evidenzbasierte Empfehlungen gibt.
Nach der NVL Kreuzschmerz soll in den ersten vier Wochen bei Fehlen von anamnestischen und klinischen "Red Flags" (Tabelle 1) auf bildgebende Diagnostik verzichtet werden, da der zu erwartende Informationsgewinn zu gering ist. Dies muss mit dem Patienten in einem ausführlichen validierenden Gespräch kommuniziert werden. Eine kurzfristige medikamentöse Analgesie kann begonnen werden, wenngleich der Nutzen insgesamt als gering bewertet wird. Insbesondere aber soll dem Patienten von Schonung abgeraten werden. Passive Therapien – aber auch Physiotherapie – sollten zunächst nicht verordnet werden, eine längere AU sollte vermieden werden.
Spätestens wenn die Schmerzen über zwölf Wochen mit alltagsrelevanten Einschränkungen (z. B. AU) trotz leitliniengerechter Versorgung persistieren, ist die Indikation für eine multimodale Schmerztherapie zu prüfen. Beim Vorliegen relevanter psychosozialer Risikofaktoren ("Yellow Flags", Tabelle 1) sollte die Indikation bereits nach sechs Wochen gestellt werden.
Eine multimodale Therapie ist jedoch im ambulanten Bereich außerhalb einiger weniger Programme zur Integrierten Versorgung schwierig umzusetzen, da sie innerhalb der Regelversorgung nicht abgebildet ist. Oft müssen – entsprechende Indikation vorausgesetzt – Patienten lange Wege in die nächstgelegene Schmerzklinik zurücklegen, in der sie stationär behandelt werden können. Tagesklinische Angebote sind oft zu weit entfernt oder werden von den Krankenkassen – wie in Hessen – aus grundsätzlichen Gründen abgelehnt. Die multimodale Therapie ist keineswegs mit einer ambulanten oder stationären Reha zu vergleichen, die weniger intensiv und präzise ist und andere Schwerpunkte setzt.
Multimodale Schmerztherapie
Zentrale Therapieempfehlung der NVL Kreuzschmerz ist die Multimodale Schmerztherapie. Sie gilt als "Goldstandard" der Schmerztherapie und wurde als umfassende Behandlung von Patienten mit chronifizierten Schmerzsyndromen bezeichnet, in die verschiedene somatische, körperlich übende, psychologisch übende und psychotherapeutische Verfahren eingebunden sind [1]. Die Effektivität dieser Therapie ist vielfach in internationalen Studien belegt. So kann bei berufstätigen Rückenschmerzpatienten ein Rückgang der AU-Tage um 75 % und eine Halbierung der schmerzbedingten Behandlungen bzw. Arztkonsultationen bei gleichzeitig deutlicher Verbesserung der Lebensqualität und anderer Parameter erreicht werden [10].
- Chronische Schmerzen (mindestens sechs Monate)
- Mindestens drei der folgenden Kriterien:
- - Manifeste oder drohende Beeinträchtigung der Lebensqualität/Arbeitsfähigkeit
- - Bisherige fehlgeschlagene Therapien oder Operationen
- - Medikamentenabhängigkeit/-fehlgebrauch
- - Schmerzunterhaltende psychische Begleiterkrankung
- - Gravierende somatische Begleiterkrankung(en)
Hauptelement ist zum einen das gleichzeitige gerichtete und gemeinsame Therapieren durch das gesamte Team. Hierbei ist die therapeutische Kleingruppe (maximal acht Teilnehmer) die wichtigste Einheit. Entscheidend ist neben der allgemeinen Aktivierung des Patienten die Motivation zu eigenverantwortlichem Handeln und zum Erlernen von Selbstwirksamkeit. Daher ist eine frühzeitige Einbeziehung des Patienten in die Therapieentscheidungen wünschenswert. Oft müssen hier Ängste, auch Bewegungsängste (Kinesiophobie) und fixierte passive Bewältigungsstrategien ("Machen Sie mich gesund!") überwunden werden. Anders gesagt setzt eine multimodale Therapie aufseiten des Patienten eine grundsätzliche Veränderungsmotivation und die Bereitschaft eines selbstständigen aktiven Schmerzmanagements voraus. Im Rahmen des multimodalen Programms kann diese Veränderungsmotivation dann zugunsten eines aktiven strukturierten Lernens und später der Aufrechterhaltung neu erlernter Strategien und Fertigkeiten ausgebaut werden [8].
Teamwork zählt
Das teamorientierte Vorgehen bedarf einer sehr guten Organisationsstruktur. Diese betrifft einerseits eine im Gegensatz zu chirurgisch-orthopädischen Settings flache Hierarchie über die verschiedenen Berufsgruppen hinweg. Ein sich in den Vordergrund spielender "Heiler" – sei es ein Arzt, Psychologe oder Physiotherapeut – , der etwa eigenmächtig konfrontiert oder "einrenkt", ist ausgesprochen kontraproduktiv und kann den gesamten Therapieerfolg gefährden. Auch der leitende Arzt muss hier oft einen Schritt zurücktreten. Andererseits muss auch der Behandlungspfad ausreichend elaboriert und effektiv sein. So muss die Zuweisung "passgenau" und so verlässlich sein, dass die multimodale Therapie tatsächlich die optimale Behandlungsmethode für diesen Patienten ist – und beispielsweise nicht eine psychosomatische Klinik. Die korrekte Abgrenzung einer "Chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren" (ICD-10: F45.41) von einer "Anhaltend somatoformen Schmerzstörung" (ICD-10: F45.40) kann im Einzelfall durchaus schwierig sein und zu Kontroversen im Assessment-Team führen. Es besteht hier ein Konsens, dass nicht nur die Therapie komplex ist, sondern auch die Patienten mit ihrem individuellen soziokulturellen Hintergrund und ihren Komorbiditäten auf somatischem und psychischem Feld [13].
Die Multimodale Schmerztherapie kann teil- oder vollstationär durchgeführt werden. Während in tagesklinischen Einrichtungen homogene störungsspezifische Gruppen leichter zusammenzustellen sind, ist dies im vollstationären Setting schwieriger. Die vollstationäre Therapie bietet hingegen Vorteile u. a. bei komplizierten medikamentösen Umstellungen wie Opiatrotationen und sollte dann durchgeführt werden, wenn eine kontinuierliche fachärztliche und pflegerische Überwachung notwendig ist oder wenn erhebliche somatische oder psychische Komorbiditäten zu beachten sind (vgl. Kasten).
Es wird häufig kritisiert, dass sogenannte Wirbelsäulenzentren aus dem Boden schießen, die weder über die notwendige Interdisziplinarität noch über einen konsentierten Kriterienkatalog verfügen [12]. Die sogenannte "stationäre orthopädische Komplexbehandlung", die vorrangig aus Infiltrationen wie periradikulären Injektionen, Massagen/Fangobehandlung und Gerätetraining besteht, hat eine viel geringere Effektstärke als die multimodale Schmerztherapie nach den o. g. Richtlinien [4].
Perspektivisch werden daher dringend Qualitätssicherungsmaßnahmen zur Prozess- und Strukturqualität benötigt. Im Bereich akute Schmerzen existieren verschiedene Zertifizierungen, wie z. B. Certkom. Für chronische Schmerzen existiert im ambulanten Bereich die Qualitätssicherungsvereinbarung Schmerztherapie der KV. Darüber hinaus ist mit dem Projekt Kedoq (www.kedoq-schmerz.de) ein zukunftsweisendes System der Qualitätssicherung und Dokumentation auf dem Markt, das u. a. auch ein (anonymes) Benchmarking zulässt.
Konsequenterweise wird daher eine Klassifikation schmerztherapeutischer Einrichtungen gefordert. So besteht mittlerweile ein Konsens der Schmerzgesellschaften über eine Differenzierung zwischen einem Zentrum für interdisziplinäre Schmerzmedizin, einem interdisziplinären Kopf- oder Rückenschmerzzentrum, einer Praxis für spezielle Schmerztherapie und einer Praxis mit qualifizierter Schmerztherapie [9]. Die Kategorie der Institution wird zu einem späteren Zeitpunkt vermutlich auch Auswirkungen auf die Vergütung im KV- und im DRG-System haben.
Dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass vonseiten einiger Klinikgeschäftsführungen in den letzten ein bis zwei Jahren auf den raschen Aufbau einer multimodalen Therapie gedrungen wird, die der geneigte meist anästhesiologische oder orthopädische leitende Arzt dann quasi "nebenher" durchführen soll. Nach unseren Erfahrungen ist eine derartige "Nebentätigkeit" jedoch oft nicht mit einer hohen Prozess- und Ergebnisqualität der Multimodalen Therapie vereinbar.
Interessenkonflikte: Dr. Böger ist im Vorstand des Berufsverbandes der Schmerztherapeuten (BVSD)
Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2016; 38 (3) Seite 16-19