In den vergangenen Wochen haben Zehntausende Asylsuchende aus dem Nahen Osten, Afrika und dem Balkan Aufnahme in Deutschland gefunden. Neben einer Unterkunft und Nahrung benötigen viele der Flüchtlinge auch eine rasche medizinische Versorgung. In vielen Fällen haben sich insbesondere auch Allgemeinärzte bei dieser Aufgabe tatkräftig in ihren Regionen engagiert und tun dies immer noch. Dr. Carl Rauscher, Hausarzt in der Oberpfalz, beschreibt hier seine Eindrücke und Erfahrungen in einer Flüchtlingsunterkunft.

Am Dienstagnachmittag klingelt das Telefon in der Praxis. Der Malteser Hilfsdienst sucht händeringend jemand, der ankommende Flüchtlinge screent. Eigentlich ist kaum Zeit wegen universitärer Tätigkeit und wegen des unmittelbar anstehenden DEGAM-Kongresses und damit verbundenen Fehlzeiten in der Praxis, aber man hat ja Medizin studiert, um zu helfen.

Screenen mit Minimal-Ausstattung

Nach Abschluss der Vormittagssprechstunde also rauf aufs Rad und in die neu eingerichtete Aufnahmestätte, eine Turnhalle in der nahe liegenden Schule. Dort sind bereits die ersten Flüchtlinge eingetroffen. Es gilt, eine Absprache mit Kollegen zu treffen. Mit vor Ort sind 2 pensionierte ehrenamtliche Kollegen, die sich ebenfalls bereit erklärt haben, Menschen in Not zu versorgen, sowie viele ehrenamtliche Helfer des Malteser Hilfsdiensts.

Das Equipment, das ich mitnehme, passt in eine Tasche. Dementsprechend kann sich die Erstuntersuchung wirklich nur auf ein oberflächliches Screening beschränken. Mit Hilfe unterschiedlicher Dolmetscher (Arabisch, Farsi, Kurdisch etc.) werden die Menschen nach Symptomen wie Husten, Durchfall, Fieber befragt. Dies gelingt nur unvollständig!

Tun, was geht

Ohne Kenntnis der Identität, allenfalls gekennzeichnet durch ein Armbändchen mit einer Ankunftsnummer, und mit nur indirekter Information über die Herkunft sowie bedingt durch die schwierige Übersetzung werden die Menschen untersucht. Eine Inspektion von Haut, Schleimhäuten, ein kurzer Primäraspekt von Allgemein- und Ernährungszustand; Auskultation von Herz und Lungen, Blutdruck- sowie Fiebermessungen. Mehr lässt der enge Zeitrahmen leider nicht zu.

Das Handy ist allgegenwärtig

Der Großteil der Menschen hustet, hat Halsschmerzen oder subfebrile Temperaturen bis 38 Grad. Viele Flüchtlinge sind geschwächt durch die lange Reise, und alle haben eine Unmenge Fragen. Viele davon betreffen das tägliche Leben. Das Handy als Dolmetscher und Dokumententräger ist allgegenwärtig. Schnell werden Fotos von Medikamenten gezeigt oder von Hautausschlägen vor einigen Tagen oder Wochen. Befunde in fremden Schriften werden vorgehalten in der Hoffnung, verstanden zu werden. Ein Kind von 4 Jahren leidet an einer schweren Muskeldystrophie. Es kann den Kopf nicht halten. Der Thorax zeigt eine ausgeprägte Kielform. Der Tonus ist schlaff. Die Mutter meint, es hustet, aber es kann kaum atmen wegen der fehlenden Atemmuskulatur. 18 kg schwer hat die Mutter dieses Kind von Afghanistan nach Regensburg zum Großteil getragen. Sie selbst ist am Ende ihrer Kräfte, weint und kann nur schwer ihre Belange artikulieren. Da der kleine Mitbürger doch sehr krank wirkt, wird umgehend eine stationäre Behandlung veranlasst.

Tuberkulose-Verdacht sorgt für Hektik

Nach wenigen Stunden kommt die Bestätigung einer Infektion der Lunge, gut mit einer Tuberkulose vereinbar. Das Hilfsteam ist ratlos. Was ist jetzt zu tun? Muss die komplette Anlage geräumt werden? Wer hatte engen Kontakt zu dem Kind? Wie muss man selbst vorgehen? Muss eine Reihenuntersuchung erfolgen? Nur schwer ist die aufgetretene Panik in den Griff zu bekommen. Hygienemaßnahmen werden getroffen. Zusätzliche Alkoholspender aufgestellt. Mundschutz für jeden wird verteilt. Selbst die neu aufgestellten Feldbetten werden in der Ratlosigkeit kurzfristig "entsorgt".

Helfen gibt ein gutes Gefühl

In der Zwischenzeit aber kommen immer mehr Flüchtlinge an. Die Arbeit geht weiter bis tief in die Nacht. Kurz vor Mitternacht werden die letzten Maßnahmen besprochen. Mittlerweile ist es kälter geworden und viele Menschen husten. Normale Erkältungserkrankungen werden als suspekt eingeordnet – man ist sensibilisiert.

Am Samstag kommt dann endlich der Freibrief. Keine Tuberkulose bei dem Kind, aber bei einem weiteren Erwachsenen. Man ist froh, Vorkehrungen wie vor allem Hygienemaßnahmen getroffen zu haben. Man ist froh, weiterhelfen zu können. Man ist erschöpft, aber es kommt ein gutes Gefühl auf, geholfen zu haben. Dieses gibt Kraft für den nächsten Tag und die nächsten Probleme.

Dr. med. Carl Rauscher


Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2015; 37 (18) Seite 102-103