Jeden Tag werden wir mit komplexen Situationen in der Behandlung von älteren Patienten konfrontiert. Besonders schwierig sind die Entscheidungen in der letzten Lebensphase, wenn zunehmend palliativmedizinische Erwägungen in den Vordergrund treten. Wie das konkret aussehen kann, soll anhand einer Kasuistik geschildert werden.

Was unterscheidet den geriatrischen Patienten von anderen Patienten? Zum einen gibt es die geriatrietypische – vom Alter unabhängige – Multimorbidität, zum anderen den Hochbetagten über 80, der mit der altersentsprechenden Gebrechlichkeit zu kämpfen hat. Die Gebrechlichkeit, auch "Frailty" genannt, ist ein Zustand verminderter Organreserven, der vor allem die Gefahr des Autonomieverlustes in sich birgt und mit einer vierfach erhöhten Mortalität im Vergleich zu gleichaltrigen Rüstigen einhergeht.

Die Deutsche Gesellschaft für Geriatrie (DGG) definiert Geriatrie wie folgt: Die Geriatrie befasst sich mit geistigen, körperlichen, funktionellen und sozialen Aspekten in der Versorgung von akuten und chronischen, rehabilitativen und präventiven Erkrankungen des alten Menschen sowie deren speziellen Situation am Lebensende.

Die Therapie am Lebensende sollte auch palliativ ausgerichtet sein. Das bedeutet aber nicht, wie viele meinen, dass sich der Betroffene in einer Sterbephase befindet. Die Therapie sollte nur nicht zwingend kurativ ausgerichtet sein, sondern sich vorrangig auf die Behandlung der Symptome konzentrieren – unter Beachtung sozialer, psychologischer und spiritueller Probleme!

Gemeinsames Ziel in der Geriatrie und in der Palliativmedizin ist der Erhalt der Autonomie und einer bestmöglichen Lebensqualität.

Und Lebensqualität kann letztlich nur vom Betroffenen selber als eine für sein persönliches Leben wichtige Qualität empfunden werden. Sie wird individuell wahrgenommen und ist ein dynamischer Prozess, der sich ständig ändert. Die Bestimmung der Lebensqualität hat entscheidenden Einfluss auf die Diagnostik und natürlich auch auf die Therapie!

Der Übergang einer geriatrischen in eine rein palliativmedizinische Behandlung ist meist fließend!

Der Fall

Eine 78 Jahre alte Patientin lebt im stationär betreuten Wohnen.

Diagnosen:

  • mittelgradige Intelligenzminderung
  • Epilepsie
  • manifeste Osteoporose
  • Sigmakarzinom 2005/Sigmaresektion
  • Hüft-TEP rechts 2008, links nach Fraktur 2011
  • Hüft-TEP rechts 2013 nach Femurmehrfragmentfraktur und Schaftlockerung
  • Psoriasis vulgaris
  • Presbyakusis
  • beginnender Demenzprozess

Im Dezember 2013 wurde die Patientin nach einer zweiten Hüftoperation zunehmend immobil. Das Bein auf der Seite der operierten Hüfte war massiv geschwollen und sie äußerte Schmerzen. Zu diesem Zeitpunkt war die Patientin wegen eines beginnenden Demenzprozesses bei bekannter mittelgradiger Intelligenzminderung nicht mehr rehabilitationsfähig. Neben einer zeitweise auftretenden Dysphagie lehnte sie auch immer häufiger das Essen und das Trinken ab.

Wichtige Laborparameter (Blutbild, Leber- und Nierenwerte, TSH, BZ, CRP) waren unauffällig. Die Untersuchung durch einen HNO-Arzt konnte eine organische Ursache der Dysphagie ausschließen.

Nach Rücksprache mit dem Betreuer war man sich einig, unter Beachtung der Gesamtsituation und Berücksichtigung der Autonomie eine symptomorientierte Behandlung durchzuführen. Auf eine PEG wurde verzichtet, da eine organisch bedingte Dysphagie ausgeschlossen wurde und die Patientin das Essen und Trinken zeitweise verweigerte.

Anzumerken ist hier, dass aufgrund der Intelligenzminderung und damit bestehenden Geschäftsunfähigkeit seit Geburt keine Patientenverfügung bestand.

Im weiteren Verlauf zeigte sich eine deutliche Progression der Demenz und die gesundheitliche Situation verschlechterte sich weiterhin: Die Dysphagie nahm zu und demzufolge exsikkierte die Patientin. Dadurch mitbedingt traten gehäuft fieberhafte Harnwegsinfekte auf. Laborchemisch spiegelte sich das in einer Erhöhung des CRPs wider. Nebenbefundlich fand sich ein grenzwertiger Hämoglobinwert.

Bis Oktober 2014 wurde die Patientin immer wieder zusätzlich mit einem Antibiotikum behandelt. Zeitgleich bekam sie subkutane Infusionen. Unter diesen Maßnahmen konnte sie aus dem Bett heraus am Alltag teilnehmen.

Im Oktober 2014 spitzte sich die Situation zu, indem die Patientin nonverbal Durst äußerte. Eine subkutane Flüssigkeitszufuhr kam auf Dauer nicht infrage und die Mitarbeiter bemühten sich, der Patientin so viel Flüssigkeit anzubieten wie nur möglich. Durch die bestehende Dysphagie kam es dabei aber ständig zu Aspirationen. Wegen der Progression der Demenz und der Verschlechterung des Allgemeinzustandes lehnte der Betreuer eine PEG-Anlage ab.

Die Situation war zu diesem Zeitpunkt für alle Beteiligten schwierig.

Anfang Dezember 2014 zeigte sich ein akuter Hb-Abfall, verbunden mit abdominellen Beschwerden. Nach Rücksprache mit dem Betreuer wurde die Patientin stationär eingewiesen: Indikation war zum einen die Abklärung der abdominellen Beschwerden, zum anderen aber auch die erneute Diskussion einer PEG-Anlage bei immer noch zeitweise bestehendem nonverbalem Durstempfinden und bestehender Dysphagie ohne organisches Korrelat im Zusammenhang mit einem fortschreitenden Demenzprozess.

Die im Krankenhaus durchgeführte und zumutbare Dia-
gnostik zeigte eine Raumforderung im Unterbauch und einen Aufstau der linken Niere.

Aufgrund der Vorgeschichte wurde der hochgradige Verdacht auf ein Rezidiv des Sigmakarzinoms geäußert.

Aufgrund der Gesamtsituation wurde die Patientin in ihren stationären Wohnbereich entlassen. Die symptomorientierte Therapie wurde den Beschwerden angepasst: Gegen die Schmerzen bekam sie Opioide und das subjektive Durstempfinden wurde durch eine intensive Mundpflege behandelt.

Die Patientin verstarb vier Wochen später, ohne dass weitere Komplikationen aufgetreten waren. Dies ist ein Beispiel, wie schwierig es oftmals ist, für den Patienten die richtige Entscheidung zu treffen.

Situation der Patientin

Aufgrund der seit Geburt bestehenden geistigen Behinderung bestand nie eine Geschäftsfähigkeit, so dass es auch keine Patientenverfügung gab. Es gilt der mutmaßliche Wille.

Situation des Betreuers

Der Betreuer nahm diese Aufgabe seit Jahren wahr. Er hat für die Patientin in ihrem Sinne entschieden, indem er sich gegen die Anlage einer PEG ausgesprochen hat. Er kannte seine Betreute so gut, dass er diese Entscheidung bei der sich hier verschlechternden gesundheitlichen Situation aus dem mutmaßlichen Willen ableitete.

Situation der Mitarbeiter

Die Mitarbeiter des Wohnheims erlebten die Patientin rund um die Uhr. Medizinisch und pflegerisch handelte es sich um eine kompetente und liebevolle Betreuung. Problem im Besonderen war die emotionale Bindung an die Patientin und die Angst, dass sie nicht optimal versorgt wird – trotz aller Bemühungen. Die schwierigste Situation hier war sicherlich der Moment der nonverbalen Durstäußerung und die Entscheidung gegen eine PEG-Anlage.

Situation des Arztes

Während zu Beginn der Behandlung durchaus noch eine Lebensqualität aus der Sicht der Patientin – unter Beachtung der individuellen Bedürfnisse – bestand, wurde zuletzt palliativ – symptomorientiert – behandelt. Die Aufgaben der palliativen Geriatrie sind aber nicht nur die Sorge um den Patienten, sondern auch die Begleitung der Angehörigen, in diesem Fall der Betreuer und der versorgenden Mitarbeiter. Eine weitere Aufgabe ist es, den Übergang zu erkennen, wann die Leistungsfähigkeit endgültig erschöpft ist und die Sterbebegleitung anfängt. Die schwierigste Entscheidung in diesem Fall war das Ablehnen der PEG-Anlage. Wie sich am Ende herausstellte, war das eine richtige Entscheidung und hier gebührt auch dem Betreuer ein Dank, der von Anfang an und bis zuletzt eine künstliche Ernährung ablehnte.

PEG: Sinnvoll oder nicht?

Für die Anlage einer PEG spricht sicherlich eine Verbesserung des Ernährungszustandes und des Flüssigkeitshaushaltes. Die Folgen sind weniger Aspirationen, weniger Infekte und eine bessere Kontrolle von Symptomen. Aber auch unter einer PEG-Anlage kommt es zu Aspirationen und Regurgitationen. Und nicht zu vergessen: Das Ausmaß der Essstörung ist auch ein Indiz für die Schwere der Demenzerkrankung. Wenn man zusätzlich bedenkt, dass die perioperative Mortalität einer PEG-Anlage bei 6 – 24 % liegt, wird die Entscheidung nicht einfacher!

Zur Indikation einer PEG bei einem an Demenz erkrankten Menschen gibt es bisher keine Evidenz bezüglich des Nutzens einer solchen Sonde. Es gibt Beobachtungsstudien, die zeigen, dass die Lebenserwartung bei Demenzkranken nicht wesentlich beeinflusst wird, sowie auch prospektive Studien, die eine deutlich geringere Rate an Aspirationen bei Hilfe in der Nahrungszufuhr zeigen als bei Ernährung über die PEG.

Wie schwierig eine solche Entscheidung ist, sollte das oben aufgeführte Fallbeispiel zeigen!



Autorin:

© Anke Richter
Anke Richter

Fachärztin für Innere Medizin mit hausärztlicher Versorgung
Palliativmedizin – hausärztliche Geriatrie

Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert.


Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2015; 37 (11) Seite 22-24