Die Therapie mit Opioiden bei Patienten mit Nichttumorschmerzen erfordert ein sorgfältiges Abwägen von Nutzen und Schaden gemeinsam mit dem Patienten. Eine Langzeitanwendung über mehr als drei Monate ist zudem nur dann zu empfehlen, wenn die Therapieziele mit geringen bzw. tolerablen Nebenwirkungen erreicht werden können. Was es darüber hinaus an möglichen Indikationen und Kontraindikationen zu bedenken gilt und worüber der Patient aufgeklärt werden muss, soll im folgenden Beitrag dargestellt werden.
In der Langzeittherapie (Dauer ≥ drei Monate) von chronischen nichttumorbedingten Schmerzen CNTS (z. B. chronischer Arthrose- und Rückenschmerz) werden in Deutschland häufig opioidhaltige Analgetika (reine Opioidagonisten wie Morphin sowie Opioide mit zusätzlichem Wirkmechanismus wie Tramadol) eingesetzt. Die in Deutschland zugelassenen opioidhaltigen Analgetika sind in Übersicht 1 aufgeführt.
Die Verordnungszahlen von opioidhaltigen Analgetika bei Patienten mit CNTS sind in Deutschland in den letzten Jahren leicht angestiegen. Der mögliche Nutzen und Schaden einer längerfristigen Anwendung von opioidhaltigen Analgetika wird in Deutschland und international kontrovers diskutiert. In den Vereinigten Staaten wird der Einsatz von Opioiden bei CNTS mittlerweile stark kritisiert wegen steigender Anzahl von Todesfällen, die auf den Gebrauch von verordneten Opioiden zurückzuführen sind. Weiterhin geht der Einsatz von opioidhaltigen Schmerzmitteln von Betroffenen, ihren Angehörigen und Personen des Gesundheitswesens (Ärzte, Apotheker, Psychologen, Physiotherapeuten) oft mit unrealistischen Hoffnungen (z. B. Opioide sind die stärksten, wirksamsten und sichersten Schmerzmittel) und Ängsten (z. B. vor Sucht, fehlendem Wirksamkeitsnachweis) einher.
In diesem Beitrag werden die für den allgemeinmedizinischen Bereich relevanten Empfehlungen der kürzlich aktualisierten S3-Leitlinie "Langzeitanwendung von Opioiden bei nichttumorbedingten Schmerzen (LONTS)" zusammengefasst. Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin war an der Leitlinie beteiligt. Die Autoren des Beitrages waren Mitglieder der Steuerungsgruppe der Leitlinie.
Indikationsstellung – partizipative Entscheidungsfindung
Im Rahmen einer partizipativen Entscheidungsfindung sollen mit dem Patienten der mögliche Nutzen und Schaden einer Therapie mit opioidhaltigen Analgetika im Vergleich zu anderen medikamentösen Therapieoptionen sowie zu nichtmedikamentösen Behandlungsoptionen besprochen werden. Keine nationale oder internationale Leitlinie empfiehlt opioidhaltige Analgetika als Erstlinientherapie bei chronischen nichttumorbedingten Schmerzsyndromen.
Wenn eine Entscheidung für eine medikamentöse Schmerztherapie getroffen ist, sollen bei der Wahl der Pharmakotherapie die Begleiterkrankungen des Patienten, Kontraindikationen (vgl. Tabelle 1), Patientenpräferenzen, Nutzen und Schaden bisheriger Therapien und das Nutzen-Risiko-Profil von medikamentösen und nichtmedikamentösen Therapiealternativen berücksichtigt werden. Nichtmedikamentöse und medikamentöse Therapiealternativen für einige CNTS-Syndrome sind in Tabelle 2 aufgeführt.
Aufgrund von chronischen Herz- und Nierenerkrankungen und/oder Ulkusanamnese sind nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) bei vielen älteren Patienten kontraindiziert. Daten zur Wirksamkeit aller Stufe-1-Analgetika (ASS, Metamizol, Muskelrelaxantien, Paracetamol) liegen aus randomisierten plazebokontrollierten Studien nicht vor. Das zentral wirkende Muskelrelaxans Flupirtin ist beim chronischen Rückenschmerz Plazebo und Tramadol überlegen, darf jedoch wegen möglicher Hepatotoxizität nicht > 14 Tage eingesetzt werden.
Mögliche Indikationen einer Therapie mit opioidhaltigen Analgetika sind in Tabelle 3 dargestellt.
Dokumentation vor Therapiebeginn
Eine allgemeine, sucht- und schmerzbezogene Anamnese sowie der körperliche und psychische Status des Patienten sollten erhoben und dokumentiert werden. Zudem ist ein Screening auf aktuelle und/oder frühere psychische Störungen sinnvoll.
Erarbeiten individueller Therapieziele
Patienten mit CNTS haben häufig hohe Erwartungen an eine medikamentöse Schmerzreduktion. Aus medizinischer Sicht sinnvolle Ziele einer Therapie (= Therapieresponse) sind eine mindestens 30 %ige Schmerzreduktion und/oder eine individuell angemessene Verbesserung der Funktionsfähigkeit im Alltag (z. B. Arbeitswiederaufnahme, "wieder Rasen mähen können", "sich selbst versorgen können").
Aufklärung des Patienten
Eine dokumentierte mündliche und/oder schriftliche ausführliche Aufklärung inklusive verkehrs- und arbeitsplatzrelevanter Aspekte des Patienten (evtl. auch der Familie und/oder Betreuer) sollte erfolgen.
Wesentliche Inhalte der Aufklärung sind:
- Hinweise auf Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten
- Hinweis auf die sichere Entsorgung der vom Patienten nicht eingenommenen Opioide entsprechend den einschlägigen betäubungsmittelrechtlichen Vorschriften
- Mitnahme opioidhaltiger Medikamente ins Ausland
- Kein Autofahren oder Bedienen von Maschinen in der Einstellungs- oder Umstellungsphase.
Risiken und Nebenwirkungen
- Information über unerwünschte Arzneimittelwirkungen, u. a. Risiken physischer Abhängigkeit, Obstipation, Übelkeit, Sedierung, Pruritus, Schwindel, Erbrechen, verringerte kognitive Leistungsfähigkeit, Müdigkeit, Mundtrockenheit, verstärktes Schwitzen, Kopfschmerz, Einschränkung der emotionalen Schwingungsfähigkeit, Verlust des sexuellen Verlangens, Auswirkungen auf die Hypophysen-Gonaden-Achse
- Mögliche negative Auswirkungen auf Fahrfähigkeit sowie Tätigkeiten am Arbeitsplatz (z. B. Arbeit an Maschinen, Steuertätigkeit) und in der Freizeit (z. B. Hausarbeit, Gartenarbeit, Sport)
Durchführung der Therapie mit opioidhaltigen Analgetika
Bei der Auswahl eines opioidhaltigen Analgetikums und seiner Applikation sollen Begleiterkrankungen des Patienten, Kontraindikationen für transdermale Systeme oder eine orale Einnahme, das Nebenwirkungsprofil des opioidhaltigen Analgetikums sowie Patientenpräferenzen berücksichtigt werden. Präparate mit retardierter Galenik bzw. langer Wirkdauer sollten eingesetzt werden.
Die Einnahme der opioidhaltigen Analgetika sollte nach einem festen Zeitplan (in Abhängigkeit von der Wirkdauer des jeweiligen Präparates) erfolgen.
Bei stabiler Einstellung sollte ein Umsetzen auf ein Präparat mit anderen pharmakokinetischen und -dynamischen Charakteristika nur in Rücksprache mit dem behandelnden Arzt und nach Aufklärung des Patienten erfolgen.
Die Therapie soll mit niedrigen Dosen begonnen werden (z. B. 2 x 10 mg Morphinäquivalent) und langsam gesteigert werden (z. B. jeden 3. Tag um 25 %). Eine optimale Dosis liegt bei einem Erreichen der zuvor formulierten Therapieziele bei gleichzeitigen geringen bzw. tolerablen Nebenwirkungen vor. Eine Dosis von > 120 mg/Tag orales Morphinäquivalent soll nur in Ausnahmefällen überschritten werden.
Eine antiemetische Behandlung kann bereits zu Beginn der Therapie erfolgen. Nach etwa zwei bis vier Wochen soll die Indikation für ein Absetzen der antiemetischen Therapie überprüft werden. Die Behandlung von Obstipation mit Laxantien sollte bei den meisten Patienten prophylaktisch begonnen werden. Bei vielen Patienten ist während der gesamten Therapiedauer mit opioidhaltigen Analgetika die Gabe von Laxantien erforderlich.
Eine Therapie > drei Monate soll nur bei Therapierespondern durchgeführt werden.
Bei einer Langzeittherapie mit Opioiden soll in regelmäßigen Abständen überprüft werden, ob die Therapieziele weiter erreicht werden und ob es Hinweise für Nebenwirkungen (z. B. Libidoverlust, psychische Veränderungen wie Interesseverlust, Merkfähigkeitsstörungen sowie Sturzereignisse) oder für einen Fehlgebrauch der rezeptierten Medikamente gibt.
Beendigung einer Therapie mit opioidhaltigen Analgetika
Die Therapie mit Opioiden sollte beendet werden:
Wenn in der Einstellungsphase (maximal zwölf Wochen) die individuellen Therapieziele nicht erreicht werden bzw. (aus Patienten- und/oder Arztsicht) nicht ausreichend therapierbare bzw. nicht tolerierbare Nebenwirkungen auftreten.
Wenn bei einer Langzeittherapie (> zwölf Wochen)
a. die individuellen Therapieziele nicht mehr erreicht bzw. (aus Patienten- und/oder Arztsicht) nicht ausreichend therapierbare bzw. nicht tolerierbare Nebenwirkungen auftreten,
b. die individuellen Therapieziele durch andere medizinische Maßnahmen (z. B. Op., Bestrahlung, ausreichende Behandlung des Grundleidens) oder physiotherapeutische oder physikalische oder psychotherapeutische Maßnahmen erreicht sind,
c. der Patient die rezeptierten opioidhaltigen Analgetika trotz Mitbehandlung durch einen Suchtspezialisten missbräuchlich verwendet.
Nach sechs Monaten soll mit Patienten mit einer Therapieresponse die Möglichkeit einer Dosisreduktion und/oder eines Auslassversuches besprochen werden, um die Indikation der Fortführung der Behandlung und das Ansprechen auf parallel eingeleitete nichtmedikamentöse Therapiemaßnahmen (z. B. multimodale Therapie) zu überprüfen.
Tipps: Praxiswerkzeuge
Deutsche Version des Kurzschmerzfragebogens Brief Pain Inventory BPI
http://www.dgss.org/fileadmin/pdf/LONTS_Praxiswerkzeug_03.pdf
Screening-Instrument für Angst und Depression PHQ-4;
http://commons.wikimedia.org/wiki/File:PHQ-4.TIF
Geriatrische Depressionsskala
http://https://www.google.de/#q=geriatrische+depressionsskala+kurzform
Informationsblatt zur Opioidtherapie
http://www.dgss.org/fileadmin/pdf/LONTS_Praxiswerkzeug_04.pdf
ÄZQ-Version der Kurzinformation für Patienten: Opioide bei chronischen Schmerzen
http://www.patienten-information.de/mdb/downloads/kip/aezq-version-kip-opioide-bei-chronischen-schmerzen.pdf/view?searchterm=None
Infoblatt Fahrsicherheit unter Opioiden
http://www.dgss.org/fileadmin/pdf/LONTS_Praxiswerkzeug_05.pdf
Opioidhaltige Analgetika bei Leberinsuffizienz
http://www.dgss.org/fileadmin/pdf/LONTS_Praxiswerkzeug_01.pdf
Opioidhaltige Analgetika bei Niereninsuffizienz
http://www.dgss.org/fileadmin/pdf/LONTS_Praxiswerkzeug_02.pdf
Hinweise der AKDÄ zur Anwendung von Fentanylpflastern
http://www.dgss.org/fileadmin/pdf/LONTS_Praxiswerkzeug_06.pdf
Antiemetika bei opioidinduzierter Übelkeit
http://www.dgss.org/fileadmin/pdf/LONTS_Praxiswerkzeug_07.pdf
Therapie der opioidinduzierten Obstipation
http://www.dgss.org/fileadmin/pdf/LONTS_Praxiswerkzeug_08.pdf
Äquivalenzdosen von Opioiden und Opioidwechsel
http://www.dgss.org/fileadmin/pdf/LONTS_Praxiswerkzeug_09.pdf
Interessenkonflikte: PD Dr. Häuser besitzt Aktienfonds, die Aktien von pharmazeutischen Firmen enthalten können. Er wurde honoriert für Beratertätigkeit (Advisory Board) von der Firma Daiichi Sankyo. Vortragshonorare bekam er von den Firmen Abbott, Janssen-Cilag, MSD Sharp & Dohme und Pfizer. Dr. Engeser und Dr. Seffrin haben keine Interessenkonflikte
Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2015; 37 (3) Seite 18-22