Folgt man den aktuellen Leitlinien, sollen immer mehr Menschen Statine einnehmen. Weltweit dürften es derzeit schon über 200 Millionen sein [1]. Die „Cholesterol Treatment Trialists“ (CTT), eine Gruppe britischer Wissenschaftler, die hier traditionell eine Vorreiterrolle spielen, veröffentlichten im Jahr 2012 eine Metaanalyse über 27 randomisierte Studien mit insgesamt 175 000 Patienten, die für die kardiovaskuläre Prävention mit Statinen ein besonders günstiges Verhältnis von hohem Nutzen und geringer Nebenwirkungsrate aufzeigte [2]. Dies löste eine heftige Debatte über Nebenwirkungen der Statine aus, die zurzeit in renommierten Fachjournalen ausgetragen wird. Dieser Artikel befasst sich mit der Frage, ob die neuen Erkenntnisse zur Nutzen-Schadensbilanz und letztlich zur Effizienz der Behandlung von Niedrigrisiko-Patienten ein Überdenken unseres Verordnungsverhaltens rechtfertigen.

Wie fällt die Entscheidung für eine medikamentöse Behandlung in der Primärprävention?

Die Gefahr, die abgewendet werden soll, muss konkret sein. Gering geschätzte Risiken wird keiner ernsthaft behandeln wollen. Nach wie vor gilt, dass der Nutzen einer prophylaktischen Behandlung immer umso größer ist, je höher das abzuwendende Risiko zu Buche schlägt. Gleichzeitig muss der zu erwartende Nutzen die Risiken der Behandlung deutlich übersteigen. Auch wenn das Risiko rechnerisch durchaus nicht irrelevant, das Gesamtrisiko eines Individuums aber überwiegend durch andere, der Behandlung nicht zugängliche Umstände bedingt ist, kann die Behandlung wenig sinnhaft sein. Diese Überlegungen sind für den Einsatz von Statinen in der Primärprävention, insbesondere bei niedrigem Risiko, von größter Bedeutung.

Was ist gesichert zu den Nebenwirkungen der Statine?

Die Therapie mit Statinen ist bestens wissenschaftlich untersucht und geht mit einer geringen Rate an Nebenwirkungen einher. An erster Stelle steht aus klinischer wie aus wissenschaftlicher Sicht die Myopathie, bei der zu unterscheiden ist zwischen Myalgie (Muskelschmerz ohne CK-Anstieg), Myositis (Muskelschmerzen mit CK-Anstieg über das 3-Fache der Norm) und Rhabdomyolyse (schwerste Muskelschmerzen mit CK-Anstieg um das 40-Fache der Norm). Studien berichten eine Myopathiehäufigkeit von 0,5/1 000 Fällen in 5 Jahren. In der zuletzt erschienenen Metaanalyse (aus 14 Primärpräventionsstudien mit 46 262 Teilnehmern) war Myopathie unter Statinen nicht signifikant häufiger als unter Plazebo [3]. In der klinischen Praxis kommt die Myopathie mit 5–10 % der Statin-behandelten Patienten deutlich häufiger vor, wobei davon auszugehen ist, dass die meisten Fälle von Muskelschmerz, v. a. diejenigen ohne CK-Anstieg, nicht durch die Statin-Medikation verursacht sind. Für Rhabdomyolysen wurde in der CTT-Metaanalyse ein Exzess-Risiko ermittelt, das bei einem Vergleich Statin vs. Plazebo bei 1:10 000, bei der Gegenüberstellung Hochdosis- versus Niedrigdosis-Statin bei 4:10 000 lag. Etwa 60 % der erfassten Rhabdomyolysen ereigneten sich unter einer Co-Medikation, die bekanntermaßen das Risiko dafür steigert [2]. Das Auftreten von myositischen Symptomen unter Statinen ist dosis- und substanzabhängig. Ein erhöhtes Risiko besteht vor allem bei höher dosiertem Simvastatin. Empfohlen wird daher, die Substanz in einer Dosis von 80 mg/die nur bei Patienten weiter zu verabreichen, die diese Dosis schon mehr als 12 Monate symptomfrei anwenden. Werden Medikamente notwendig, die ebenfalls über Cytochrom P450 3A4 metabolisiert werden (vgl. Tabelle 1), ist auf ein anderes potentes Statin (Rosuvastatin oder Atorvastatin) umzustellen. Bei Neueinstellung ist Simvastatin auf 40 mg/die zu begrenzen, bei Co-Medikation gemäß Tabelle 1 entsprechend niedriger [4]. Daraus ergibt sich zwangsläufig, dass bei sehr hohem und hohem Risiko mit konsekutiv niedrigem Zielwert des LDL-C in den meisten Fällen Atorvastatin oder Rosuvastatin eingesetzt werden muss. Es ist daher nicht vertretbar, dass in solchen Fällen in Deutschland die Erstattung von Rosuvastatin seitens der Gesetzlichen Krankenkassen verweigert wird, wenn Atorvastatin nachweislich nicht vertragen wird.

Typ-2-Diabetes

Seit Publikation der JUPITER-Studie im Jahr 2008, in der Patienten mit niedrigem kardiovaskulärem Risiko, aber erhöhtem C-reaktivem Protein plazebokontrolliert mit 20 mg/ die Rosuvastatin behandelt wurden, ist bekannt, dass die Diabetesinzidenz unter Statinen gegenüber Plazebo leicht erhöht ist (3,0 % vs. 2,4 %, P=0,01) [5].

Unter Statintherapie kommt es zu einem 9 %igen Anstieg des Risikos für neue Diabetesfälle innerhalb von 4 Jahren, besonders bei älteren Patienten. Einer von 5 neu manifestierten Diabetesfällen ist auf eine laufende Statintherapie zurückzuführen. Dieses Subkollektiv hatte in den großen Studien den gleichen kardiovaskulären Benefit der Statintherapie wie die Nicht-Diabetiker [6].

Das Risiko einer Leberaffektion in Form erhöhter Transaminasen ist dosisabhängig und für die einzelnen Statine spezifisch. Es liegt für eine 10 %ige LDL-Senkung zwischen 271 (Hochdosis) und 114 (Niedrigdosis) Fällen/100 000 Personen/Jahr. So hat z. B. die Behandlung mit 80 mg Atorvastatin im Vergleich zu 10 mg/die eine 4-fach höhere Wahrscheinlichkeit eines Transaminasenanstiegs. Der Anstieg der Trans-
aminasen unter Statinen ist reversibel, Leberversagen unter Statinen eine Rarität und nicht häufiger als in der Normalbevölkerung.

Vereinzelte Berichte über Demenz und Gedächtnisstörungen haben sich in den großen randomisierten Studien, in denen sie gezielt untersucht wurden, nicht bestätigen lassen, zum Teil wird sogar ein Rückgang der Inzidenz von Alzheimer-Erkrankungen berichtet. Die Thematik wird derzeit weiter erforscht [7].

Eine erwartete Verbesserung hinsichtlich einer Erektilen Dysfunktion (ED) unter Statinen ließ sich bisher nur in kleineren Untersuchungen belegen. Es liegen auch gegenteilige Ergebnisse vor. Studien brachten bisher dazu keine konsistenten Erkenntnisse. Daher sind weitere Untersuchungen notwendig, eine Mutmaßung, dass ED eine Nebenwirkung der Statintherapie sein könnte, ist derzeit nicht gerechtfertigt [7].

Eine Zunahme von Katarakten lässt sich aus den großen randomisierten Studien nicht ableiten, deutet sich aber in Bevölkerungsstudien an, die bislang aber nicht eindeutig interpretierbar sind, so dass sich dies auch um einen Gegenstand weiterer Untersuchungen handelt [7].

Der Nutzen der Statine

Die Statintherapie gehört zum derzeit wichtigsten medikamentösen Instrumentarium der kardiovaskulären Prävention [7]. Für jedes 1 mmol/l (38,7 mg/dl), um das LDL-C durch Statine erniedrigt wird, sinkt die Gesamtsterblichkeit um 10 %, die Häufigkeit der Todesfälle durch die Koronare Herzkrankheit um 20 % und die Häufigkeit kardiovaskulärer Ereignisse sogar um 22 % [8]. Unabhängig von Alter, Geschlecht und Ausgangswert des LDL-C reduziert die Senkung des LDL-C um 1 mmol/l innerhalb von 5 Jahren das Auftreten kardiovaskulärer Ereignisse auf ein Fünftel. Dies gilt auch für Menschen mit niedrigem kardiovaskulärem Risiko.

Wen behandeln?

Heißt das also Statine für alle, oder für jeden, der das 60. Lebensjahr überschritten hat?

Hierbei muss die eingangs geäußerte Feststellung berücksichtigt werden, dass bei niedrigem Erkrankungsrisiko der absolute Nutzen einer primärpräventiven Therapie verhältnismäßig gering ist, insbesondere, wenn wir damit von allen Risiken, die einen Menschen bedrohen, nur einen geringen Teil abdecken. Hier sollten Leitlinien hilfreich sein.

Die europäischen Leitlinien für die kardiovaskuläre Prävention [9], die auch für die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie verbindlich sind, unterscheiden 4 Risikogruppen. Die ersten beiden Gruppen zeichnet ein hoher Evidenzgrad aus, der Empfehlungsgrad "I A" ist so hoch, dass es sich quasi um ein MUSS handelt. Die Gruppe 1 mit sehr hohem Risiko umfasst u. a. alle Patienten mit gesicherten arteriellen Gefäßleiden. Der Zielwert für die LDL-C-Senkung liegt bei < 70 mg/dl, alternativ bei 50 % des Ausgangswerts. In der Gruppe 2 mit hohem Risiko finden sich die Diabetiker, Menschen mit Cholesterinerhöhung und familiärem Risiko (konventionell LDL-C > 190 mg/dl oder signifikante Lipoprotein(a)-Erhöhung) und Patienten mit mäßig eingeschränkter Nierenfunktion. Hier ist eine LDL-Absenkung unter 100 mg/dl erforderlich.

Die Geister scheiden sich bei Gruppe 3 mit moderat erhöhtem Risiko, das sich auf SCORE, ein für europäische Verhältnisse entwickeltes System von Risikotabellen, stützt, und sehr weit-reichende Ziele für die kardiovaskuläre Primärprävention vorgibt.

LDL-C soll unter 115 mg/dl abgesenkt werden, wenn das 10-Jahres-Risiko für einen tödlichen Herzinfarkt nach der SCORE-Tabelle zwischen 1 % und 5 % beträgt.

Bei dem epidemiologisch fundierten SCORE-System werden Länder mit hohem und niedrigem Risiko unterschieden, Deutschland liegt dazwischen, wird aber derzeit zur Niedrigrisikogruppe gezählt [9]. Seit 2005 existieren Deutschland-spezifische SCORE-Tabellen (vgl. Abb. 1).

Geht man davon aus, dass es wenige Menschen im fortgeschrittenen Erwachsenenalter gibt, die ihr LDL-C alleine mit dem Lebensstil unter 115 mg/dl halten können, und folgt man dem SCORE-Diagramm, so haben die deutsche Frau über 60 und der deutsche Mann über 50 Jahren selbst unter günstigsten Umständen als Nichtraucher und mit niedrigem Blutdruck kaum eine Chance, einer Statinbehandlung zu entgehen. Beruhigenderweise ist der Evidenzgrad für die Gruppe 3 deutlich niedriger als für die vorausgehenden. Zur Niedrigrisikogruppe 4 (SCORE < 1 %), für die kein LDL-Ziel definiert ist, bedarf es unter diesem Gesichtspunkt keiner weiteren Kommentierung.

Schlussfolgerung

Die Absenkung des LDL-C mit Statinen ist eine der wichtigsten medikamentösen Präventionsmaßnahmen kardiovaskulärer Erkrankungen. Der Nutzen ist nachgewiesen für alle Risikogruppen. Selbst für Personen mit niedrigem Risiko ist ein kalkulatorischer Nutzen noch nachweisbar. Konsistente Ergebnisse über Nebenwirkungen einer Statintherapie beruhen vor allem auf deren Myopathierisiko und einer leichten Zunahme der Diabetesinzidenz. Nach allen vorliegenden Erkenntnissen und allgemeinem Konsens werden die Nebenwirkungen auch bei der Behandlung von Niedrigrisikopatienten bei Weitem durch den Nutzen der Therapie übertroffen. Ob in der Primärprävention in der Gruppe mit "moderat erhöhtem Risiko" nicht nur die Nutzen-Risiko-Bilanz positiv zu bewerten ist, sondern auch die Kosteneffektivität, ist für deutsche Verhältnisse nicht bekannt.

Bezüglich der Behandlungsindikationen für Gruppen mit sehr hohem und hohem Risiko besteht allgemein Konsens, wenn auch die Umsetzung in der Praxis noch deutlich zu wünschen übrig lässt und die Kostenerstattung durch die Gesetzlichen Krankenkassen der gesicherten wissenschaftlichen Datenlage nicht immer Rechnung trägt.

Deutlich diskussionsbedürftig ist die Patientengruppe mit moderat erhöhtem Risiko, das nach geltenden Leitlinien allen Frauen über 60 und allen Männern über 50 Jahren zugesprochen wird, selbst wenn alle anderen Risikofaktoren im günstigsten Bereich liegen. An der Sinnhaftigkeit dieser Empfehlung müssen erhebliche Zweifel aufkommen, da das absolute Risiko, das hier zu behandeln ist, relativ gering ist. Wenn 1 000 Personen mit einem Risiko < 10 % 5 Jahre behandelt würden, wären 11 kardiovaskuläre Ereignisse zu verhindern. Für die Einzelperson bedeutete dies, durch eine 5 Jahre konsequent durchgezogene Therapie eines von vielen Risiken um 1 % zu senken. Vielleicht sollten in diese Entscheidung Faktoren einbezogen werden, die sich nicht in der SCORE-Berechnung niederschlagen, z. B. Trainingszustand, Körpergewicht, Diabetes-Disposition, Familiengeschichte und psychosoziale sowie sozioökonomische Faktoren. Nach Sichtung der aktuellen Datenlage zur Primärprävention mit Statinen kann nur dazu ermutigt werden, eine Entscheidung nicht schematisch, sondern individuell zu treffen.


Literatur:
1. Blaha MJ, Martin SS. How do statins work? Changing paradigms with implications for statin allocation. J Am Coll Cardiol 2013;62:2392-4..
2. Cholesterol Treatment Trialists’ Collaborators. The effects of lowering LDL cholesterol with statin therapy in people at low risk of vascular disease: meta-analysis of individual data from 27 randomised trials. Lancet 2012; 380:581-590. doi:10.1016/S0140-6736(12)60367-5.
3. Finegold JA, Manisty CH, Goldacre B, Barron AJ, Francis DP. What proportion of symptomatic side effects in patients taking statins are genuinely caused by the drug? Systematic review of randomized placebo-controlled trials to aid individual patient choice. Eur J Prev Cardiol 2014;21(4):464-474.
4. Amy Egan, M.D., M.P.H., and Eric Colman, M.D. Weighing the Benefits of High-Dose Simvastatin against the Risk of Myopathy. N Engl J Med 2011; 365:285-287.
5. Ridker PM, Danielson E, Fonseca FA, Genest J, Gotto AM Jr, Kastelein JJ, et al. Rosuvastatin to prevent vascular events in men and women with elevated C-reactive protein. N Engl J Med 2008;359:2195-207.
6. Preiss D, Seshasai SR, Welsh P, Murphy SA, Ho JE, Waters DD, et al. Risk of incident diabetes with intensive-dose compared with moderate-dose statin therapy: a meta-analysis. JAMA 2011;305:2556-64.
7. Chintan S Desai, Seth S Martin, Roger S Blumenthal. Non-cardiovascular effects associated with statins. BMJ 2014;349:g3743.
8. Cholesterol Treatment Trialists (CTT) Collaboration. Efficacy and safety of more intensive lowering of LDL cholesterol: a meta-analysis of data from 170 000 participants in 26 randomised trials. Lancet 2010;376:1670-81.
9. The Fifth Joint Task Force of the European Society of Cardiology and Other Societies on Cardiovascular Disease Prevention in Clinical Practice European Guidelines on cardiovascular disease prevention in clinical practice (version 2012) European Heart Journal (2012) 33, 1635–1701.
10. Keil U, Fitzgerald AF, Gohlke H et al. (2005) Risikoabschatzung tödlicher Herz-KreislaufErkrankungen. Dtsch Arztebl 2005; 102(25):A1808–A1812.



Autor:

Prof. Dr. med. Harry W. Hahmann

Klinik Schwabenland
Fachklinik für Innere Medizin
88316 Isny-Neutrauchburg

Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert.


Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2015; 37 (2) Seite 38-42