Seit etlichen Jahren sind einige Methoden der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) auch in Europa auf dem Vormarsch und finden immer mehr Anhänger unter Ärzten wie in der Bevölkerung. Dabei sollte man aber nicht vergessen, dass es auch in unseren Breiten eine lange Geschichte der Heilkunde gibt. Unter dem Begriff „Traditionelle Europäische Medizin“, kurz TEM, wird eine Reihe von Behandlungsmethoden zusammengefasst, die im europäischen Kulturraum entstanden sind. Die Geschichte der TEM reicht 2 500 Jahre zurück. Auf der practica2013 vermittelte Dr. Willem Evermann einen spannenden Einblick in die Grundlagen der TEM.

Seit Jahrtausenden beherrschte die Konstitutionslehre das Denken und Wirken in der Medizin. Während die historische Denkweise (Humorallehre, Galen, Hippokrates) von vier Grundtypen ausgeht, kann in der Konstitutionslehre des 19. und 20. Jahrhunderts eine Reduktion auf zuletzt zwei Haupttypen festgestellt werden: Nannte Kretzschmer Anfang des 20. Jahrhunderts noch drei Typen (leptosom – athletisch – pyknosom), finden sich bei Aschner, der in seinem „Lehrbuch der Konstitutionstherapie“ wesentliche Elemente der „alten Medizin“ aufgriff und an zeitgemäße medizinische Verhältnisse anpasste, nur noch zwei Haupttypen: die asthenische und die plethorische Konfiguration.

Dem asthenischen Typus ordnete Aschner die Lymphe zu und dem plethorischen die Galle. Für jede dieser beiden Formen beschrieb er je einen weiteren Folgetypus: Hierbei stellt die „Neurasthenie“ eine Komplikationsform der Asthenie dar und die „Apoplexie“ eine Steigerung der plethorischen, biliären Konstitution.

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Das Gespräch mit Dr. med. Willem Evermann über die Traditionelle Europäische Medizinfinden Sie hier.

Das vegetative Nervensystem

Viele naturheilkundliche Therapien basieren auf vegetativen Reaktionen auf äußerliche Reize. Hierbei decken sich die jeweiligen Applikationsorte der unterschiedlichen Systeme und orientieren sich am segmentalen Aufbau. Eine genaue Kenntnis der Segmentanatomie ist der Schlüssel zur Neuraltherapie, Akupunktur, Schröpftherapie und anderem. Die Signalwege sind morphologisch nachweisbar und verschiedentlich belegt. An diesen Reflexbeziehungen scheinen in auschlaggebendem Maße vegetative Fasern beteiligt zu sein. Die regulatorischen Effekte im Zielorgan finden im Bereich der Grundsubstanz statt. Das Auftreten der Exazerbationsformen der lymphatischen und biliären Kon-
stitution nach verschiedentlichen Reizintensitäten geht mit den Symptomen der Sympathikotonie auf verschiedenen Ebenen (Neurasthenie bzw. Apoplexie) einher. Dabei ist das Erreichen der Exazerbationsgrenze stark vom konstitutionellen Typus abhängig und es liegt daher die Vermutung nahe, dass es individuelle, konstitutionstypische Unterschiede in der vegetativen Regulation und Reizbeantwortung gibt.

Die Gesamtkonstitution setzt sich aus zwei Bestandteilen zusammen: der genetisch festgelegten Grundkonstitution, welche die Basis jeder regulatorischen Arbeit darstellt, sowie der sogenannten Reaktionslage. Diese ist das „Arbeitssystem“ des Organismus, mithilfe derer er auf äußere Reize reagieren kann. Hieraus ergeben sich zahlreiche therapeutische Konsequenzen, sowohl im ganzheitlichen als auch im schulmedizinischen Bereich. Dass prinzipiell zur Reizbeantwortung zweierlei Reaktionsformen möglich sind, ist unbestritten. So beschrieb Heines 2010 die sympathiko-katabole und die parasympathiko-anabole Reaktionsmöglichkeit (A- und B-Reaktion) auf einen Stressreiz.

Der Habitus entscheidet

Klinische Beobachtungen an jungen, gesunden Erwachsenen zeigen, dass diejenigen, die einer lymphatischen Konstitution entsprechen, eher unter Hypotonie, Bradykardie und Kälteintoleranz leiden. Des Weiteren erscheint dieser Habitus als deutlich anfälliger gegenüber Stress und generell äußeren Reizen. Pirlet und Jungmann beschrieben 1955 genau diese konstitutionstypischen Unterschiede anhand physiologischer Parameter. Der Leptosome nach Pirlet entspricht dabei dem hier dargestellten lymphatischen Habitus nach Aschner. Beim Leptosomen wurden ein geringerer Gefäßwiderstand, die längere Grundschwingungszeit, die geringere Kältetoleranz und der niedrigere Energieumsatz pro kg/Körpergewicht (um den Fettgewebsanteil bereinigt) nachgewiesen. Dagegen fallen beim biliären Typus nach Aschner (oder pyknosomen Habitus nach Pirlet) gegenteilige Aspekte auf, wie z. B. ein höherer Grundumsatz (bereinigt um den Fettanteil am Körpergewicht), höherer Gefäßtonus und die größere Toleranz gegenüber Kaltreizen. Regulationsmedizinische Beobachtungen aus der Praxis zeigen, dass der biliäre Habitus deutlich größere Dosen bzw. stärkere Reize benötigt, bevor eine regulatorische Antwort ausgelöst werden kann, der Lymphatiker reagiert bereits auf wesentlich geringere Reize adäquat.

Der Einfluss von Sympathikus und Parasympathikus

Ähnliches fällt auch bei der Betrachtung der Therapieweisen der nichtärztlichen Therapeuten des vorletzten Jahrhunderts auf: Der "Sonnendoktor" Rikli (1823 – 1906) propagierte eine eher sanfte Heilung durch Sonnenwärme mit entsprechenden Freiluftbädern. Selber war Rikli von schlanker, hagerer, hochgewachsener Natur, während der "Wasserdoktor" Kneipp (1821 – 1897), der seine Patienten in recht robuster Art mit "brunnenkaltem" Wasser begoss, eher den kleinen, dicklichen Pykniker verkörperte.

Wird die Beschreibung der vegetativen Funktionsparameter von Pirlet und Aschner (dieser beschrieb als führendes Symptom des lymphatischen Habitus die Magenatonie) mit neurovegetativem Wissen betrachtet, so fällt auf, dass der Lymphatiker eher vagoton reguliert. Ebenso verfügt der lymphatische Habitus über einen allgemein deutlich höheren Tonus, insbesondere auch am Gastrointestinaltrakt. Experimentell konnte 1962 von Greef die paradoxe Vaguswirkung an Magengewebe belegt werden: Liegt ein hoher Gewebe-(Muskel-)tonus vor, wird die Motilität unter parasympathischem Einfluss gehemmt. Nur bei geringem Tonus tritt die prokinetische Wirkung ein. Der biliäre Typus verfügt über einen insgesamt eher schlaffen Gewebetonus und eine eher zu sympathikotone Reaktion. Höhere funktionelle Funktionsparameter sowie die psychisch charakteristische, leicht aufbrausende Art belegen dies (Abbildung 1).

Therapieverfahren

Um eine spezifische Therapie empfehlen zu können, ist also der jeweilige individuelle Stand der gegebenen Grundkonstitution sowie der Reaktionslage notwendigerweise zu ermitteln. Hierbei hilft die Irisdiagnostik beim Erkennen der Grundkonstitution sowie ererbter Organschwächen. Zur Beurteilung der Reaktionslage können die Parameter der Fahrradergometrie (Tabelle 2) sowie anamnestisch die Parameter nach Pirlet und Jungmann (Tabelle 1) genutzt werden. Ziel der therapeutischen Bestrebung ist es, die Reaktionslage in den genetisch determinierten Bereich der Grundkonstitution zurückzuführen. Aufgrund der insgesamt feineren Reaktionsweise sind beim Lymphatiker bereits schwache Reize ausreichend, während der Biliäre intensivere Reize zur adäquaten Reizantwort benötigt.

Zum Einsatz kommen können alleinig oder zur Unterstützung der schulmedizinischen Therapie: die ausleitenden Therapieverfahren (Blutegel, Aderlass, blutiges Schröpfen), die eher parasympathikoton wirken, tonisierende Verfahren (trockenes Schröpfen, Phytotherapie mit Bittermitteln, Wickel und Auflagen, Hydrotherapie) und ausgleichende Verfahren. Hier muss in allererster Linie die Eigenbluttherapie genannt werden. Aufgrund zweier Reaktionsphasen, die der Körper nach Injektion durchlebt, können sowohl, in Abhängigkeit von der Ausgangslage, Parasympathikus als auch Sympathikus gestärkt werden. Dieses Verfahren kann daher nahezu universell, im Sinne der Konstitutionstherapie, eingesetzt werden.

Literatur beim Verfasser

Dr. med. Willem Evermann


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Dr. med. Willem Evermann
Facharzt für Allgemeinmedizin
24149 Kiel

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2014; 36 (1) Seite 70-72