Für den Deutschen Hausärzteverband (DHÄV) ist die Hausarztzentrierte Versorgung (HzV) die zentrale Antwort auf die Herausforderungen einer alternden, multimorbiden Bevölkerung. Vor einigen Monaten hat der DHÄV eine weitere Stufe für eine hausarztzentrierte, flächendeckende, patientennahe und sektorenübergreifende Versorgung gezündet – die sogenannten Versorgungslandschaften. Was ist darunter zu verstehen?

Im deutschen Gesundheitswesen gibt es eine Hausarztebene, eine Facharztebene und die Kliniken. Viele sehen die Hauptschwachstelle dieses Systems darin, dass diese drei Ebenen nicht richtig miteinander kommunizieren. Durch die sektoralen Grenzen entstehe ein Verbrauch an Ressourcen, der nicht notwendig sei, der den Patienten nicht zugutekomme. Darunter würden die Arzt-Patienten-Beziehungen und eine qualitativ hochwertige Versorgung der Patienten leiden. Das vom DHÄV vorgelegte Konzept der Versorgungslandschaften will genau dieses Problem beseitigen.

Das Schnittstellenproblem lösen

Versorgungslandschaften sind der Versuch, Integrierte Versorgung flächendeckend zu implementieren, erklärt Eberhard Mehl, Hauptgeschäftsführer des DHÄV, in einem Interview mit dem Forum für Gesundheitspolitik. Der Hausärzteverband habe die Erfahrung gemacht, dass die Integrierte Versorgung in den letzten zehn Jahren nicht gut funktioniert hat. Ungelöst sei immer noch die sektorenübergreifende Schnittstellenproblematik insbesondere im ambulanten, im stationären und im Pflegebereich, also auch an der Schnittstelle zwischen Hausarzt und Facharzt. Der nächste Schritt im Selektivvertragssystem der Hausarztzentrierten Versorgung müsse nun die Anbindung von niedergelassenen Fachärzten, Krankenhäusern und anderen Leistungsbereichen, wie der Pflege, sein.

Mit den Versorgungslandschaften soll eine zukunftsfeste Versorgung aufgebaut werden, ergänzt Ulrich Weigeldt, der Bundesvorsitzende des DHÄV. Diese Versorgungslandschaften würden es ermöglichen, weiterhin die älterwerdenden Menschen mit einem höheren Chronikeranteil angemessen zu versorgen, so dass diese keine unnötigen Hürden überwinden müssen. Der DHÄV will damit ein Zeichen setzen, dass man auch ohne Sektorengrenzen arbeiten kann. Die Versorgungslandschaften wollen aufräumen mit dem Klein-Klein, wie es bisher oft der Fall ist. Man setzt hier auf das Prinzip der Zusammenarbeit zwischen den Facharztgruppen.

Diabetes und Rheuma im Blickpunkt

Die bisher geplanten Versorgungslandschaften sollen indikationsspezifisch im ambulanten Sektor die Haus- und Facharztebene und im stationären Sektor die Versorgung in Krankenhäusern für die großen Volkskrankheiten Diabetes und Rheuma umfassen. Der am weitesten gediehene Entwurf ist die „Versorgungslandschaft Diabetes“.

Er vereint Hausärzte, diabetologische Schwerpunktpraxen und Krankenhäuser in einer Versorgungsstruktur, die klar die primärärztliche Funktion des Hausarztes stärkt und die Hausarztzentrierte Versorgung als Basis anerkennt, so der DHÄV.

Vertragspartner des DHÄV bei der Versorgungslandschaft Diabetes sind der Bundesverband der niedergelassenen Diabetologen (BVND) und der Bundesverband der Diabetologen in Kliniken (BVDK). Die beiden Berufsverbände haben sich in den Vorständen intensiv damit beschäftigt. Beide Berufsverbände stimmen derzeit diesen neuen Vertragsstrukturen zu. Das heißt, es gibt erstmals in der Bundesrepublik eine Plattform, auf der Hausärzte, niedergelassene Diabetologen und Kliniken gemeinsam ein Vertragsmodell entwickeln.

Eine Ergänzung zu DMP

Grundlage des Vertrags ist das Disease- Management-Programm (DMP). Nach Ansicht von Eberhard Mehl waren die DMP allerdings nur ein erster Schritt. Das Problem bei den DMP sei, dass eine strukturierte Versorgung nur über eine Krankheitsgruppe gegossen wurde. Was man aber brauche, sei die Differenzierung von Patienten. Für die Versorgungslandschaften habe man daher ein einheitliches Clustersystem erarbeitet, in dem die Patienten je nach Schweregrad eingeordnet werden können: Ist z. B. ein Patient „nur“ an Typ-2-Diabetes erkrankt oder ist er multimorbid? Das wäre eine Kategorisierung. Hinzukommen soll eine zweite Kategorisierung nach sozialen Indikatoren.

Anhand von Evaluationen, internationalen Erfahrungen und Leitliniendiskussionen wurden als Kernzielwerte das HbA1c, der Blutdruck und die Füße bestimmt. An diesen könne man am besten ablesen, ob eine Versorgung für den jeweiligen Diabetiker verbesserungsnotwendig ist, ob er weiterüberwiesen werden muss, oder ob er gut eingestellt, gut versorgt ist, so dass er zum Hausarzt zurücküberwiesen werden kann.

Im Konzept der Versorgungslandschaft Diabetes wird der Patient dabei von seinen Ressourcen und von seinen Problemen her angeschaut. Der Gedanke dahinter: Ein Patient kann und wird seine medizinischen Zielwerte nur erreichen, wenn in seinem häuslichen, sozialen und beruflichen Umfeld eine stabile Situation herrscht. Hat ein Patient im beruflichen Umfeld momentan Probleme, dann werden auch sein HbA1c oder sein Blutdruck nicht wesentlich beeinflussbar sein. Das heißt, das primäre Ziel ist, Hinderungsfaktoren zu erkennen, die dafür verantwortlich sind, dass der Patient seine medizinischen Zielwerte zum jetzigen Zeitpunkt nicht erreichen kann. Das ist dann die Aufgabe des Hausarztes.

Die Effizienz wird gesteigert

Die Versorgungslandschaft würde auch für die Spezialisten klare Vorteile mit sich bringen, meint der DHÄV. So könnten die niedergelassenen Fachärzte in einer primärärztlich ausgerichteten Struktur sogar besser überleben, denn die unkoordinierte Inanspruchnahme des Facharztes ist eines der größten Probleme. In einer primärärztlichen Struktur könne der Spezialist sich dagegen auf die wirklich kranken, durch den Hausarzt vorselektierten Patienten konzentrieren. Er erhält einen strukturierten Arztbrief und gibt dann die richtigen Informationen bei der Rücküberweisung an den Hausarzt weiter. Bei der Versorgungslandschaft geht man aber noch einen Schritt weiter und bindet grundsätzlich das Krankenhaus mit ein.

Die Hausarztzentrierte Versorgung ist auf chronisch erkrankte Patienten ausgerichtet und gibt dem Arzt die Möglichkeit, sich auf jene Patienten zu konzentrieren, die es am nötigsten haben. Der zentrale Gedanke des Clustersystems ist es, die Kooperation mit den Fachärzten zu intensivieren. Stehen zu wenige Fachärzte zur Verfügung, können schwerkranke Patienten gezielt gemeinsam von Hausärzten und Fachärzten versorgt werden. Deshalb lägen die Effizienzreserven eindeutig in der Konzentration auf die wirklich kranken Patienten. Ziel dieser Versorgungslandschaften sei eine bessere, eine qualitätsorientierte Versorgung.

Mehr Arbeit, aber auch mehr Spaß

Das bedeutet sicher zunächst einmal Mehrarbeit für den Primärarzt, weil er den Patienten permanent versorgt und darauf achtet, dass die Daten bei ihm zusammenlaufen. Eine Arbeitserleichterung entstehe aber durch klarere Strukturen. Der Arzt wisse, an wen er einen Patienten weitergeben kann, er wisse, was dann geschieht und welche Informationen er zurückerhalte. Wenn dann eine bessere Versorgung erreicht wird und die Ärzte mehr Leistungen für die Patienten erbringen, dann ist es auch angemessen, so die Ansicht des DHÄV, dass die Ärzte dafür auch entsprechend besser honoriert werden. Außerdem habe die Evaluation der HzV-Verträge in Baden-Württemberg ergeben, dass die Arbeitszufriedenheit der Ärzte steigt, wenn die Arbeit nicht entfremdet wahrgenommen wird, sondern man das Gefühl hat, etwas zu bewirken, und es auch noch Spaß macht. Dann werde Mehrarbeit nicht negativ empfunden, sagt Ulrich Weigeldt.

Den Verfechtern der Versorgungslandschaften ist bewusst, dass die Implementierung eines solchen Programms am Anfang erst einmal mehr Geld als vorher kosten wird. Für die Krankenkassen liege der Vorteil aber in der klaren Aufgabendefinition im Konzept der Versorgungslandschaft, anhand derer man die Kostenstrukturen klar analysieren könne. Das habe für den Kostenträger erhebliche Vorteile. Die Frage wird sein, ob sich Krankenkassen finden werden, die klug genug sind, zu erkennen, dass eine optimierte Diabetikerbetreuung mit weniger Krankenhausaufenthalten, weniger Amputationen, weniger Erblindungen, weniger Nierenerkrankungen usw. auf Dauer nicht teurer wird. Erste Gespräche mit verschiedenen Krankenkassen haben wohl schon stattgefunden. Ergebnisse – sollte es sie denn geben – wurden aber noch nicht öffentlich.

Die Vertragspartner der Versorgungslandschaft Diabetes rechnen damit, dass es gegen dieses völlig neue System mit Sicherheit von verschiedenen Seiten erheblichen Widerstand geben wird. Ungeachtet dessen wollen sie den nun eingeschlagenen Weg aber weiter verfolgen, weil sich daraus die Chance ergebe, dass die Ärzte das Gesundheitssystem mit beeinflussen können.▪

Dr. Ingolf Dürr


Schnittstelle Hausarzt/Spezialist

Hausärztliche Betreuung in allen Krankheitsphasen!

Während sich die HÄVG um strukturelle Fragen der Versorgungslandschaft kümmern muss, haben auf der practica 2012 elf Hausärzte in einem Workshop diskutiert, wo sie die Kernprobleme der Zusammenarbeit von Hausärzten und Spezialisten bei der Betreuung von Diabetikern sehen. Daraus hervorgegangen ist ein hausärztliches Votum, das – wenn auch nicht repräsentativ – gespickt ist mit interessanten Vorschlägen, die eine effizientere „diabetologische Shared care“ fordern. Dieses Bad Orber Votum wollen wir hier zur Diskussion stellen.

Konkret fordert die bunt gemischte Gruppe aus jungen und erfahrenen Hausärzten, Angestellten wie Selbstständigen, in ländlicher Einzelpraxis wie städtischer Praxisgemeinschaft niedergelassenen Kollegen „vor allem eine Entbürokratisierung, vereinheitlichte Verträge und ein einheitliches System für ganz Deutschland“.

„Wir sind bereit, individuelle Briefe mit Fragestellungen an den Spezialisten zu formulieren, wenn dieser seinerseits auf routinemäßige Wiedereinbestellung verzichtet. Diese Mehrarbeit muss durch Streichung von Formulararbeit an anderer Stelle kompensiert werden, und Spezialisten ihrerseits müssen ein wertvolles Feedback abgeben. Strukturierte Informationssammlungen wie bspw. die DMP vermehren nur die Bürokratie. Nicht das Formularwesen soll aber bezahlt werden, sondern die Gespräche mit und am Patienten.“

„Wir Hausärzte wollen die Patienten umfassend in allen Krankheitsphasen betreuen, bedingen uns aber aus, die Option zu behalten, nach individuellem Wissensstand zu überweisen. Der obengenannte spezialistische Feedback-Bericht sollte den Wissensstand jedes Mal erhöhen, so dass die Stufe der Zusammenarbeit sich individuell ändern wird. Neue Strukturen sollten die Möglichkeit eines telefonischen Konsils beinhalten. Dieses Konsil muss für alle Ebenen vergütet sein, so dass die „Verluste“ der fehlenden Überweisung ausgeglichen werden.“

„Wir lehnen für Deutschland jede Option einer ergebnisorientierten Bezahlung (Bonus- und Bestrafungssystem, Pay for Performance) ab, weil sich Diabetes hierfür geradezu verbietet. Wir sind gewillt und bereit, die Versorgung der Fußkomplikationen zu verbessern. Ein Großteil der Ärzteschaft bräuchte dafür vermutlich Nachschulungen und wir wünschen dem Nachwuchs eine andere, eine bessere Ausbildung; die fehlende Pflicht, chirurgische Fragestellungen zu erlernen, verschlimmert das Problem. Abschließend wünschen wir uns eine Selbstverpflichtung der Spezialisten, unabhängig von Pharmazieinteressen zu agieren, eine pharmafreie Fortbildung für ihre eigenen Versorgungsebenen sicherzustellen und die Therapieempfehlungen und insbesondere Therapie-Eskalation der Nationalen Versorgungsleitlinie als Grundlage einer neuen Versorgungsstruktur zu akzeptieren.“

Bad Orber Votum,
korrespondierender Autor: Dr. med. Til Uebel, 47930 Ittlingen

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2013; 35 (2) Seite 58-59