Jedes Jahr steigt in Deutschland die Zahl der Krebstoten. Im Jahr 2008 starben rund 215 000 Menschen an Krebs. Im Sommer wurde vom Bundeskabinett ein Gesetz beschlossen, das den Kampf gegen den Krebs verstärken soll, insbesondere durch eine verstärkte Früherkennung. Das klingt nach einer wunderbaren Idee. Aber ist sie das wirklich?

Bei genauerer Betrachtung fallen einige epidemiologische Denkfehler auf. Da ist zunächst einmal die grundsätzlich falsche Annahme, dass eine Steigerung der jährlichen Krebsraten ein nicht natürlicher Vorgang sei, den es zu bekämpfen gelte. Krebs ist ein zwangsläufiges Problem einer älter werdenden Gesellschaft. Tatsächlich nimmt die altersstandardisierte Erkrankungsrate an Krebs nicht wesentlich zu, die Sterberate nimmt altersstandardisiert sogar ab! Korrigiert man die Statistik um das Phänomen des Älterwerdens einer Gesellschaft, zeigen die letzten Jahre also eher einen positiven Trend.

Massenscreenings sind problematisch

Dennoch ist es nicht falsch, wenn wir versuchen, die Erkennung und Therapie der Krebserkrankungen weiter zu verbessern. Die große Frage ist aber, ob bevölkerungsbezogene Massenscreenings wie z. B. das Prostatakrebs-, Brustkrebs- oder Hautkrebsscreening geeignete Mittel hierfür sind.

Ein Massenscreening wirft zwei grundlegende Probleme auf. Erstens hat ein positives Testergebnis einer Untersuchung umso weniger Aussagekraft, je weniger wahrscheinlich die Erkrankung vorhanden ist. Das liegt daran, dass Testergebnisse leider nie fehlerlos sind. Falsch-Positiv-Befunde treten umso öfter auf, je weniger tatsächlich Erkrankte unter den Untersuchten sind. Ein ungezieltes Screening bedeutet aber immer, dass die Wahrscheinlichkeit für das Vorhandensein einer Krankheit in der Gruppe der Untersuchten niedrig ist. Daraus folgt, dass viele Falsch-Positiv-Befunde zu erwarten sind. Je mehr wir testen, desto schlechter wird der Vorhersagewert des Testergebnisses.

Zum zweiten begünstigt eine Screeninguntersuchung das Auffinden von langsam wachsenden, weniger aggressiven Tumoren, da man einen schnell wachsenden und aggressiven Tumor zwischen den Screeningintervallen häufiger verpasst (length biased sampling). Derartige Tumoren bedürfen eigentlich keiner Therapie, da sie womöglich so langsam gewachsen wären, dass sie zu Lebzeiten nie zu medizinischen Problemen geführt hätten. Einmal gefundene Tumoren werden aber meist auch behandelt, unter Umständen mit nebenwirkungsreichen Methoden.

Pro und Contra PSA-Test

Die Studienergebnisse der letzten Jahre haben nun leider zu einer zunehmenden Verunsicherung beigetragen. Allgemeinplätze wie „früh erkennen und früh behandeln ist günstiger als abwarten“ und „Vorsorge ist besser als Nachsorge“ werden zu Recht infragegestellt. Die US Preventive Services Task Force empfiehlt, den PSA-Test gar nicht mehr durchzuführen, da der Nutzen allenfalls gering, das Schadenspotenzial durch falsch-positive Befunde, Überdiagnose und Übertherapie aber größer ist als bisher angenommen.

Die Zahlen der großen europäischen PSA-Studie (ERSCP) sind etwas besser als in der amerikanischen Studie, aber ebenfalls ernüchternd. Sie haben dazu geführt, dass die deutschen Fachgesellschaften empfehlen, den Test nur nach ausführlicher Aufklärung über das Pro und Contra und auf ausdrücklichen Wunsch des Patienten durchzuführen. Wir sind uns einig, dass dies (noch) nicht durchgehende gängige Praxis in deutschen urologischen oder hausärztlichen Praxen ist. Entschuldigend kann angeführt werden, dass wir Ärzte selbst noch nicht so genau wissen, wie wir die Zahlen interpretieren müssen. Wie sollen wir das dann unseren Patienten verständlich erklären?

Sehr viel besser sieht die Lage aber auch nicht bei den anderen großen Screening-Untersuchungen aus. Vorteile sind entweder geringer als erhofft (z. B. Brustkrebs-Screening) oder noch gänzlich unbewiesen (Hautkrebs-Screening), und die Seite der Schäden aufgrund von Falsch-Positiv-Befunden sowie von Übertherapie ist meist sehr wenig beleuchtet und mit harten Daten belegt.

Die Ärzte im Dilemma

Diese Situation bringt uns in mehrfacher Hinsicht in ein Dilemma. Zum einen ist da die ökonomische Seite der Praxisführung. Wir bekommen Geld für Vorsorgeuntersuchungen, und sie werden oft nachgefragt. Keiner von uns kann auf diesen Teil der Einnahmen einfach verzichten, solange die Behandlung von Krankheiten so schlecht bezahlt wird, wie es aktuell der Fall ist. Muss ich aber angesichts der Datenlage nicht zunehmend vor manchen Vorsorgeuntersuchungen warnen, sie dem Patienten eventuell eher aus- als einreden? Zumindest müsste ich den Patienten ausführlich aufklären, auf was er sich da einlässt. Das kostet jedoch viel Zeit, wird nicht vergütet und trifft unsere Patienten oft völlig unvorbereitet – haben wir ihnen doch in den vergangenen Jahren erst mühsam beibringen müssen, schön regelmäßig zu den Vorsorgeuntersuchungen zu erscheinen. Und jetzt das?

Man macht es sich zu einfach, wenn man sich auf den Standpunkt zurückzieht, eben die Leistungen zu erbringen, die öffentlich empfohlen und auch bezahlt werden. Ein ethisch vertretbarer Ansatz ist das nicht. Wir müssen vielmehr die Patienten in die Lage versetzen, das grundlegende Problem wenigstens ansatzweise zu verstehen und ihre Entscheidung für oder gegen eine Screeningmaßnahme selbst zu treffen. Dabei müssen sie über den möglicherweise nur geringen Nutzen und den nicht unerheblichen möglichen Schaden aufgeklärt werden. Den Druck (pro Screening) auf die Patienten zu erhöhen, wie es nun im neuen Gesetz vorgesehen ist, ist sicher falsch und abzulehnen. Gänzlich unerträglich sind Bestrebungen, Patienten mit „Haftung“ zu drohen, falls sie eine Screeningmaßnahme ablehnen und später im Leben an dem betreffenden Krebs erkranken.

Das Geld besser für Erkrankte ausgeben

Wir tragen aber nicht nur eine ethische Verantwortung für den einzelnen Patienten, es gibt auch ein ethisches Dilemma auf höherer Ebene. Die Krankenkassen (und die Patienten) geben sehr viel Geld für die Vorsorge aus, deren (Netto-)Nutzen zumindest angezweifelt werden darf. Dieses Geld steht dann nicht mehr für die Versorgung von tatsächlich Erkrankten zur Verfügung. Wäre es nicht besser, dieses Geld in die Versorgung der jetzt schon Bedürftigen zu investieren? Dieses Allokationsproblem können und sollen nicht wir Ärzte in den Praxen lösen, es ist aber eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und Notwendigkeit, sich damit auseinanderzusetzen.

Folgende Thesen/Forderungen stelle ich in den Raum: Ein ungezieltes Massenscreening ist aus grundsätzlichen Erwägungen problematisch. Wir müssen Kriterien erarbeiten, wer wann und wie gescreent werden sollte. So können wir die Vortestwahrscheinlichkeit erhöhen und damit den positiven Vorhersagewert des Tests verbessern. Damit steigt die Trefferquote, und die Anzahl der unnötig Untersuchten, der Falsch-Positiv-Befunde und der Überdiagnostik sinkt.

Die Teilnahme an einer Screeninguntersuchung muss freiwillig bleiben. Sie darf nur nach einer neutralen und umfassenden Aufklärung erfolgen, die den Patienten in die Lage versetzt, selbst zu entscheiden. Jede Form von Druck auf Patienten, insbesondere durch eine einseitige Darstellung, die den Nutzen und den Schaden der Screeningmaßnahme nicht korrekt erläutert, ist zu unterlassen. Ein Großteil der verfügbaren Aufklärungs- und Informationsmaterialien genügt diesen Anforderungen nicht.

Umstrittene Screenings nicht fördern

Die einseitige Förderung des Screenings durch finanzielle Anreize für Ärzte ist problematisch. Eine umfassende Aufklärung des Patienten, an die sich eine Ablehnung der Maßnahme anschließt, müsste mit dem gleichen Honorar entlohnt werden wie die Durchführung der Screeninguntersuchung.

Ist die Datenlage für eine Screeninguntersuchung nicht ausreichend oder ihr Nutzen umstritten, darf diese Maßnahme nicht gefördert werden – es sei denn, es wird gleichzeitig ein wissenschaftlicher Rahmen geschaffen, um den Nutzen/Schaden der Maßnahme prospektiv klären zu können. Die Verbesserung der Datenlage durch die Einführung von aussagekräftigeren Krebsregistern ist zu begrüßen.

Je länger ich mich als epidemiologisch gebildeter Hausarzt mit dieser Thematik auseinandersetze, desto größer werden Zweifel an meinem eigenen Handeln. Teile des verabschiedeten Gesetzes der Bundesregierung stellen mich vor die Frage, ob die Politik sich in ausreichendem Maße mit dieser Problematik beschäftigt hat. Es wird Zeit, über die großen Screeningprogramme nachzudenken und die notwendigen Schlüsse zu ziehen. Ziel muss es sein, zu einem verbesserten, gezielteren und effektiveren Screening zu gelangen.▪


Dr. med. Hannes Blankenfeld, MPH


Kontakt:
Dr. med. Hannes Blankenfeld, MPH
80797 München

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2013; 35 (1) Seite 67-69