Das Fibromyalgiesyndrom stellt einen Symptomenkomplex mit der Eigenschaft einer Ausschlussdiagnose dar. Somatisch weitgehend unerklärbare Schmerzen werden dabei häufig auch von vegetativen Beschwerden wie Müdigkeit und weiteren allgemeinen unspezifischen Körpersymptomen begleitet. Im Folgenden werden die aktuellen diagnostischen Kriterien vorgestellt.

Die Schmerzen bei Fibromyalgiesyndrom werden von den Betroffenen typischerweise an vielen (auch wechselnden) Körperstellen, vorzugsweise Muskulatur und Sehnen-Knochenübergängen verortet. Begleitet werden sie von mehr oder minder ausgeprägten sozialen und psychischen Behinderungen und charakteristischerweise vor allem auch von psychophysischen Symptomen wie Müdigkeit, Depressionen und Schlafstörungen. Der Bedeutung dieser „Begleitphänomene“ tragen die aktualisierten ACR-Kriterien (American College of Rheumatology) von 2010 [1] nun in weit stärkerem Maße Rechnung. Das führende Symptom der Fibromyalgie, nämlich die (un)typische Schmerzausprägung als großflächiger Schmerz, wird nun als Anzahl aus 19 definierten betroffenen Körperregionen (Widespread Pain Index, WIP) dargestellt. Damit eng verbunden sind weitere wichtige und charakteristische Symptome, die in einer Symptomschwere-Skala (SS) gemessen werden. Diese umfasst Müdigkeit, unerfrischtes Aufwachen, kognitive Störungen und somatische allgemeine Symptome (vgl. Tabelle 1).

Symptomkonstellationen werden stärker gewichtet

Im Vergleich zu den „alten“ Diagnosekriterien des ACR 1990 [2] wird nun nicht mehr obligat gefordert, dass ein weit ausgedehnter Schmerz in mindestens drei von vier Körperquadranten über drei Monate plus Schmerzen im Achsenskelett (zervikal, lumbal, thorakal) plus elf von 18 definierten Tenderpoints schmerzhaft auf Druck von 4 kg gefordert vorhanden sein muss. Vielmehr können jetzt auch regionale Schmerzsyndrome die Kriterien erfüllen, wenn das Ausmaß charakteristischer Begleitsymptome entsprechend imponiert. Auffällige radiologische oder laborchemische Befunde schließen ein Fibromyalgiesyndrom keineswegs aus.

Nach den neuen diagnostischen Kriterien ist demnach das Fibromyalgiesyndrom durch großflächige Schmerzen in nur noch mindestens einem Körperquadranten/Körperseite und zusätzlich in einem/mehreren Bereichen des Achsenskeletts (WS Brustkorb) definiert. Die wichtigste Neuerung ist die stärkere Gewichtung der charakteristischen Symptomkonstellation von Sehnen-Muskelschmerz mit nicht-erholsamem Schlaf, Müdigkeit und beeinträchtigter kognitiver Funktionen in Kombination mit zusätzlichen Symptomen in einem Beurteilungszeitraum der zurückliegenden Woche. Die Anzahl definierter "Tenderpoints" ist demnach nicht mehr zentrales Kriterium, denn deren Qualifizierbarkeit und Quantifizierbarkeit waren offenbar zu stark untersucher-abhängig. Wichtigstes Kriterium ist aber weiterhin, dass für die beklagten Schmerzen keine spezifische medizinische Ursache gefunden werden kann, die die Beschwerden erklären könnte.

Ein WPI >7 und SS >5 oder ein WPI 3 – 6 und SS >9 gelten danach als hochsignifikant verdächtig auf Fibromyalgie. Die weitere Schmerzanalyse, Anamnese und körperliche Untersuchung bestätigt dann die Diagnose.

Es bleibt sicherlich abzuwarten, ob diese neuen Kriterien in der breiten praktischen Anwendung dem eigenen Anspruch an eine hohe Spezifität und Sensitivität genügen. Die 2012 erschienene Überarbeitungsversion der Leitlinie der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Schmerztherapie (DIVS) „Fibromyalgie, Diagnose und Therapie“ rät jedenfalls von der Anwendung der neuen ACR-Kriterien ab und empfiehlt stattdessen, bei den alten Kriterien zu bleiben (siehe Abbildung nächste Seite).

Differenzialdiagnose und weitere medizinische Abklärung

Patienten mit Fibromyalgiesyndrom sollten zunächst auf entzündliche Erkrankungen untersucht werden, insbesondere aus dem rheumatischen Formenkreis, denn solche Erkrankungen können ähnliche Beschwerden verursachen bzw. auch mit einem Fibromyalgiesyndrom einhergehen (RA, Polymyalgia rheumatica, systemischer Lupus erythematodes). Auch auf endokrine Erkrankungen, die Muskel- und Gelenkschmerzen verursachen können (Hypothyreose, Hyperparathyreoidismus und Morbus Addison), sollte untersucht werden. Neben Anamnese und klinischem Befund ist ein Routinelabor zu empfehlen, das Blutsenkungsreaktion, Rheumafaktor, Kreatinkinase und CRP/CCP/ANA sowie ein Differenzialblutbild, Schilddrüsenwerte und Serumeisen-Transferrin umfassen sollte. Nach neuesten Befunden scheint fast die Hälfte der Fibromyalgiepatienten positiv im Suchtest auf antipolymere Antikörper zu reagieren [3]. Möglicherweise ergeben sich hier spezifische Therapieansätze.

Darüber hinaus wird über die Definition von Subgruppen anhand der Symptomausprägung [5, 6, 7] diskutiert. Über die differenzielle Gewichtung körperlicher und psychischer Symptome will man zu effizienten Therapieansätzen kommen. Besonderer Wert wird hierbei auf die psychischen (Ko-)Morbiditäten bei Fibromyalgie gelegt, deren Präsenz medikamentöse und/oder behaviorale Therapieansätze je nach Ausprägung indiziert. Ob sich nun tatsächlich Subgruppen scharf abgrenzen lassen, ist indes weniger entscheidend. Die Bedeutung scheint jedoch in der besonderen Wertung der führenden Symptome für die jeweilige individualisierte mechanismenorientierte Therapie zu liegen [8]. Schmerzmedizinisch dürfte die spezielle Anamnese unter Zuhilfenahme von Fragebogen-Inventaren (z. B. Deutscher Schmerzfragebogen und die neuen ACR Kriterien 2010) aber deutlich erleichtert werden.

Fibromyalgie als zentrales Sensibilisierungssyndrom

Fibromyalgie ist ein im Behandlungsalltag immer häufiger imponierendes Syndrom, das auch sozialrechtlich stetig größere Bedeutung dadurch gewinnt, dass Betroffene häufig an schweren behindernden Symptomen leiden, aber keine Anerkennung erfahren.

Bei fehlenden objektiven Befunden tun sich noch allzu viele Mediziner schwer zu akzeptieren, dass dann trotzdem eine subjektive Beeinträchtigung bestehen kann. Vielleicht würde dies leichter fallen, wenn man den ätiologischen Klassifizierungen der neueren Forschung folgen würde. Danach liegt die augenscheinlichste Erklärung dort, wo Schmerz geleitet und verarbeitet wird: im zentralen Nervensystem. Nach Smith handelt es sich bei Fibromyalgie vorrangig um Verarbeitungsstörungen der Schmerzafferenz. Er klassifiziert damit die Fibromyalgie als ein Zentrales Sensibilisierungssyndrom (CSS) [3].

Im biopsychosozialen Schmerzmodell verdichten sich spezifische Hinweise auf biologische und psychosoziale Zusammenhänge, die das typische klinische Bild des Fibromyalgiesyndroms, gerade auch in seiner phänomenologischen Buntheit, zunehmend erklären. Aber keine dieser Variablen, ob biologisch oder psychosozial, kann bislang als einzige Bedingung für den Ausbruch oder den Unterhalt des Fibromyalgiesyndroms verantwortlich gemacht werden. In der Gesamtschau jedoch werden die Zusammenhänge deutlich klarer. Grundlagenforschung und klinische Studien zeigen: Es gibt offenbar

  • eine Sensibilisierung und Plastizität zentraler NMDA-Rezeptoren (die auch eine wichtige Rolle bei der Opioid-assoziierten Hyperalgesie spielen),
  • eine Dysregulation kortikaler dopaminerger Neurotransmission,
  • eine Erniedrigung des zentralnervösen Serotoninspiegels und eine Erhöhung der Substanz-P-Konzentration,
  • eine Störung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrindenachse, kenntlich an veränderten Spiegeln an Kortison, ACTH, Wachstumshormon und IGF-1,
  • eine massive Störung von Tiefschlafphasen, die mit den vorgenannten humoralen Alterationen assoziiert ist,
  • eine genetische Disposition, z. B. in Fibromyalgie-Untergruppen bewiesen für das Serotonin-Transporter-Gen, das Katecholamin-Methyltransferase-Gen, die Exprimierung von Beta-2- Adrenorezeptoren,
  • einen bisher allerdings kaum spezifizierten Einfluss von Sexualhormonen, was erklären könnte, weshalb Fibromyalgie überwiegend das weibliche Geschlecht betrifft.

Damit rücken die Hauptsymptome des Fibromyalgiesyndroms in ein neues (erklärbares) Licht: Neuroendokrine und neuroimmunologische Funktionsstörungen geraten als Treiber und Marker der zentralen Sensibilisierung pro-algetischer Schmerzperzeption immer stärker in den Vordergrund.

Mechanismen-orientierte Therapie

Wenn die eigentlich schmerzauslösenden Faktoren im neuro-immuno-humoralen System zu suchen sind, ergeben sich daraus zumindest theoretisch Therapieansätze, die Aussicht auf Erfolg haben könnten. An einer genetischen Disposition wird man nichts ändern können. Angreifen kann man aber sehr wohl an den psychosozialen Stressoren und der Stressantwort darauf, an den Neurotransmittersystemen sowie an Dekonditionierungen bezüglich Schmerzerfahrung und Aufmerksamkeitslenkung.

Multimodale Strategien, die medizinische Behandlung und psychotherapeutische Interventionen mit edukativen Elementen und sportlicher Rehabilitation vereinen, sind demzufolge übereinstimmend in der Literatur der führende Therapieansatz [10]. Monotherapien jedweder Art sind demgegenüber deutlich unterlegen und fördern wahrscheinlich sogar die Chronifizierung.

Die erste wichtige Option bei Patienten mit Verdacht auf oder diagnostiziertem Fibromyalgiesyndrom ist, zu vermeiden, was diese Patienten nur allzu oft erwartet, nämlich Unverständnis. Genauso wenig zielführend sind Bemerkungen wie „das alles spielt sich nur in Ihrem Kopf ab“ oder „Sie haben wohl ein psychisches Problem“. Wichtig ist, den Patienten dort abzuholen, wo er steht: schmerzgeplagt und mit nur wenig Plan, warum.

Die zweite wichtige Option ist, den Stellenwert und die potenzielle Behandelbarkeit psychosozialer Implikationen ernsthaft zu wägen und in das Therapiekonzept einzuflechten. Bei hoher Aktivität der Tenderpunkte und hohen Schmerzlevels ohne signifikant prädominante Depression/Angst ist Psychotherapie wenig sinnvoll. Hier sind somatische Therapien gefragt. Diese können in Edukation, Physiotherapie und Aktivierung bestehen, z. B. einem Trainingsprogramm, bei dem man auch durch spezifisch schmerzmedizinische Maßnahmen oft erst einmal die Durchführbarkeit sicherstellen muss (Akupunktur, Medikation etc.). Demgegenüber müssen bei führenden behavioralen/psychischen Ko-Morbiditäten gerade dort auch die primären Therapieansätze liegen.

Die Differenzialindikation therapeutischer Behandlungspläne und Therapiesettings setzt damit essenziell eine Schmerzanalyse voraus, die weitgehend alle Facetten chronischer Schmerzpatienten evaluiert (z. B. Deutscher Schmerzfragebogen). Denn nur anhand der Auswertung dieser Daten ist eine Gesamtschau der Schmerzausprägung im Hinblick auf mögliche Therapieoptionen sinnstiftend. Gerade auch vielleicht als wenig bedeutsame „Paraphänomene“ eingestufte Befindlichkeitsstörungen, wie Schlafmangel und Tagesmüdigkeit, spielen besonders bei Fibromyalgiepatienten geradezu eine herausragende Rolle. Sie sind neben Depression und Angst die allererste Therapieadresse [11]. Letztere sind „aggressiv“ zu therapieren. Bekommt man die Depression und Angst nicht ausreichend in den Griff, sind alle anderen Therapieansätze wenig oder gar nicht erfolgversprechend. Verhaltenstherapeutische Therapiestrategien vermögen bei fast jedem zweiten Patienten die Symptome entscheidend zu bessern [12]. Andererseits heilt eine antidepressive Therapie für sich alleine nicht eine Fibromyalgie.

Medikamentöse Optionen

Die medikamentöse Therapie macht bei Fibromyalgie allenfalls einen (kleinen) Teil der therapeutischen Optionen aus. Die Studienlage für die Wirksamkeit antidepressiver Medikamente, respektive Trizyklika (z.B. Amitriptylin), selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (z. B. Citalopram) und gemischte Serotonin/Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer (z. B. Duloxetin), ist mittlerweile ausreichend. Diese Medikamente können genauso Schmerz dämpfen wie gestörten Schlaf bessern [13]. Hier gilt als praktischer Hinweis: „Start low and go slow“. Werden Trizyklika trotzdem schlecht vertragen, was gar nicht so selten ist, bieten sich bestimmte Antikonvulsiva wie Gabapentin, Clonazepam und nicht-„benzodiazepine“ Hypnotika (z. B. Zolpidem) als „Alternative“ an. Deren teilweise höheres Gewöhnungspotenzial ist allerdings beachtenswert. Eine amerikanische Leitlinie empfiehlt in schweren Fällen von Insomnie sogar die Kombination von Zolpidem/Zopiclon und Zaleplon (Sonata®), d. h. sog. „Z-Substanzen“ [3].

Genuine Entzündungshemmer, wie NSAR und Kortikoide, sind nur dann von Nutzen, wenn tatsächlich eine signifikante Inflammation vorliegt. Die potenziellen Risiken (kardiovaskulär, gastrointestinal, renal) übersteigen hier in der Regel die erwartbaren Vorteile.

Muskelrelaxanzien sind ebenfalls nur selten indiziert, beispielsweise dann, wenn der führende Befund eine erhöhte, peripher feststellbare Tender- und Triggeraktivität ist. In der Regel ist aber bei Fibromyalgie-Patienten kein krankhafter Muskelbefund zu erheben, was dann einen Einsatz von Muskelrelaxanzien theoretisch und praktisch als sehr fraglich erscheinen lässt. Keines dieser Präparate hat überdies einen überzeugenden Wirksamkeitsnachweis erbringen können.

Der Einsatz von Opioiden entbehrt ebenfalls einer verwertbaren Studienlage. Einzig Tramadol, ein schwacher µ-Opioid-Rezeptor-Agonist mit zusätzlichen Wirkungen auf Serotonin- und Noradrenalinrezeptoren, ist bezüglich Schmerz bei Fibromyalgie positiv beschrieben. Andere Opioide werden zwar häufig wegen der starken Schmerzen eingesetzt, sind aber schon theoretisch wegen der bei Fibromyalgie-Patienten verminderten Opioidrezeptordichte im ZNS von eher minderem Nutzen.


Interessenkonflikte:
keine deklariert

SanRat Dr. med. Oliver M. D. Emrich


Kontakt:
SanRat Dr. med. Oliver M. D. Emrich
Praxis für Allgemeinmedizin und spezielle Schmerztherapie
Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie (DGS)
67069 Ludwigshafen

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2013; 35 (8) Seite 43-48