In jeder Hausarztpraxis gehört die Versorgung chronischer Schmerzpatienten mit 18 % der Beratungsanlässe zu den häufigen Konsultationsgründen. Dabei kommt dem Hausarzt nicht nur die Aufgabe zu, nach Warnhinweisen für eine spezifische Ursache zu suchen und die Schmerzen zu lindern. Denn das Fokussieren auf Schmerzfreiheit ist mit der Gefahr unnötiger Diagnostik, unzureichender Therapieversuche und häufiger Arztwechsel verbunden. Stattdessen sollte der Hausarzt seine chronischen Schmerzpatienten kontinuierlich und strukturiert begleiten und versuchen, deren Selbstverantwortung zu stärken.

Die Mehrzahl der Patienten mit chronischen Rückenschmerzen leidet an Schmerzen in verschiedenen Körperregionen, jeder zweite Schmerzpatient leidet an Kreuzschmerzen [3]. Dauern die Schmerzen drei Monate und länger an, werden sie als chronisch bezeichnet [1].

Ein Projekt der Marburger Abteilung für Allgemeinmedizin untersuchte die Ausprägung chronischer Rückenschmerzen sowie die prognostische Bedeutung von Ressourcen und Bewältigungsstrategien hausärztlicher Patienten. Inzwischen wurden in einer Querschnittserhebung ca. 650 Patienten mit chronischen Rückenschmerzen in 58 hausärztlichen Praxen rekrutiert und befragt. Es zeigte sich, dass die Art der Schmerzen stark variiert von permanenten gleichbleibenden Schmerzen bis zu Schmerzattacken mit oder ohne Phasen von Schmerzfreiheit. Die meisten Patienten verspüren neben den lumbalen Beschwerden auch Schmerzen in anderen Körperregionen – häufig in den Armen oder Beinen. Etwa jeder vierte Patient leidet an sogenannten generalisierten Schmerzen, da er neben den Schmerzen im Achsenskelett auch Schmerzen in vier anderen Körperregionen (obere und untere Körperhälfte sowie rechte und linke Körperhälfte) angibt. Frauen scheinen häufiger an chronischen Rückenschmerzen (lokal oder multilokulär) zu leiden als Männer [5].

Psychische Beeinträchtigungen sind häufig

Schmerzen und depressive oder affektive Störungen beeinflussen sich wechselseitig. Depressive Verstimmungen gehören zu den Risikofaktoren (Yellow flags) für eine Chronifizierung von Rückenschmerzen, d. h. Menschen mit entsprechenden Auffälligkeiten entwickeln eher chronische Verläufe und relevante Funktionseinschränkungen als nicht depressive Patienten. Auf der anderen Seite entwickeln depressive Patienten häufig chronische Schmerzen. In der oben erwähnten Stichprobe hausärztlicher Patienten mit chronischen Rückenschmerzen liegt die Prävalenz depressiver oder ängstlicher Verstimmungen bei ca. 25 % [5]. Weitere Risikofaktoren für ungünstige prognostische Verläufe (Yellow flags) sind negativer beruflicher oder privater Stress, dauerhafte emotionale Anspannungen, ein ausgeprägtes Krankheitsverhalten (z. B. Vermeidung körperlicher Aktivität aus Angst vor Rückenschädigungen) oder ungünstige Krankheitsüberzeugungen (z. B. Gedanken über vermutlichen Misserfolg der Therapiebemühungen) [4].

Ursache der Beschwerden bleibt oft ungeklärt

Bislang reichen die wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht aus, um chronische Schmerzen eindeutig einer bestimmten Ursache zuzuweisen, deren Therapie mit einer Linderung oder Beseitigung der Schmerzen einhergeht. Zwar ist bekannt, dass Rückenschmerzen häufig mit degenerativen Erkrankungen assoziiert sind [2], eine dahingehende Diagnostik verbessert aber mangels effektiver Therapien nicht die Prognose der Patienten. Aus diesem Grund scheint derzeit das Konzept der diagnostischen Triage, wie es auch bei akuten Rückenschmerzen angewendet wird, sinnvoll. Sie erlaubt eine Unterscheidung zwischen den häufigen nicht spezifischen Beschwerden, die nicht auf eine Organpathologie zurückzuführen sind, und den selteneren, spezifischen Rückenschmerzen, die z. B. auf Wirbelkörperfrakturen, Infektionen, Radikulopathien oder Tumoren zurückgehen und einer besonderen Intervention bedürfen. Die Wahrscheinlichkeit für eine solche zugrundeliegende Pathologie steigt mit dem Lebensalter, dem Vorliegen von Warnhinweisen (Red flags, Übersicht 1) und Auffälligkeiten in der klinischen Untersuchung.

Liegen Warnhinweise vor, sollte ein MRT veranlasst werden. Gibt es keinen Anhalt für eine Organpathologie, stattdessen aber psychosoziale Belastungsfaktoren, kann auch bei chronischen Rückenschmerzen darauf verzichtet werden [1]. Die Anzahl der Patienten, bei denen Warnhinweise vorliegen, ist angesichts der hohen Prävalenz älterer multimorbider Patienten in Hausarztpraxen mit ca. 21 % hoch (s. u.). So ist zu vermuten, dass bei vielen Patienten mit chronischen Rückenschmerzen einmal eine zielgerichtete weiterführende Diagnostik stattgefunden haben sollte.

Medikamentöse Schmerztherapie

Erleben Patienten ihre Schmerzen als stark beeinträchtigend, sollte eine medikamentöse Therapie eingeleitet bzw. intensiviert werden. Für chronische Rückenschmerzen werden hier seitens der Nationalen Versorgungsleitlinie (NVL) Rückenschmerzen [1] Analgetika wie Paracetamol oder traditionelle nicht steroidale Antirheumatika (tNSAR) in oraler Form empfohlen. Aufgrund des Nebenwirkungsprofils sollte die Therapie so kurz wie möglich in der niedrigsten notwendigen Dosis, ggf. unter prophylaktischer Gabe eines Protonenpumpenhemmers, erfolgen. Aufgrund der hohen Selbstmedikationsrate muss unbedingt eine sorgfältige Medikamentenanamnese unter Einbezug frei verkäuflicher Präparate erfolgen und in den Therapieerwägungen berücksichtigt werden. Optional, z. B. bei Kontraindikationen von NSAR, können Muskelrelaxantien kurzzeitig eingesetzt werden.

Kann mit einfachen Analgetika oder tNSAR­ keine ausreichende Schmerzlinderung erzielt werden, können schwache oder ggf. starke Opioide eingesetzt werden. Wie alle Schmerzmittel zur Behandlung chronischer Beschwerden sollten diese nach festem Zeitschema und in retardierter Form oral verabreicht werden. Nicht alle Patienten sprechen auf Opioide an, weshalb der Therapieerfolg kontrolliert werden muss (spätestens nach drei Monaten), um bei fehlender Schmerzlinderung diese abzusetzen. Vorübergehende Schmerzexazerbationen werden durch NSAR oder einfache Analgetika kupiert.

Immer sollte eine Kombination mit nicht medikamentösen Maßnahmen, ggf. auch multimodaler Therapie, angestrebt werden. Bei unzureichender Schmerztherapie ist es sinnvoll, einen Schmerztherapeuten zu konsultieren.

Nicht medikamentöse Schmerztherapie

Patienten mit chronischen Rückenschmerzen, die trotz Therapie keine Linderung ihrer Beschwerden zeigen, deren Erwerbsfähigkeit gefährdet ist, sowie Patienten, die aufgrund ihrer Beschwerden im Alltag stark eingeschränkt sind, sollten möglichst in einem interdisziplinären Team im Rahmen eines multimodalen Behandlungsprogramms behandelt werden. Dies kann mit dem Ziel der Wiedereingliederung im Rahmen einer Rehabilitation erfolgen oder zur Kuration in einer entsprechenden multimodalen Schmerzklinik [1]. Entsprechende Behandlungsplätze sind selten in Deutschland. Hilfreich ist es meist jedoch schon, wenn man eine psychotherapeutische Mitbetreuung der chronischen Rückenschmerzpatienten erreichen kann.

Zahlreiche andere nicht medikamentöse Therapien werden angeboten. Bewährt haben sich für chronische Rückenschmerzen Bewegungstherapie, Entspannungsverfahren (Progressive Muskelrelaxation), ergotherapeutische Maßnahmen, Rückenschule, ggf. Akupunktur oder Manipulation/Mobilisation [1].

Therapieziel ist Lebensqualität

Trotz Diagnostik wird man bei der Mehrzahl der Patienten keine Ansätze für eine ursächliche Therapie feststellen können. Auch nach Einbezug anderer Fachgruppen oder im Anschluss an multimodale Therapieprogramme werden die meisten Patienten weiterhin ihren Hausarzt wegen rezidivierender Schmerzen aufsuchen.

Es ist die Aufgabe des Hausarztes, diese Patienten ähnlich anderen chronisch erkrankten Patienten zu begleiten, Zustandsverschlechterungen zu vermeiden, die Selbstverantwortung der Patienten zu stärken und mit dem Ziel einer angemessenen Lebensqualität ihre Schmerzen und Beeinträchtigungen im Alltag zu lindern (Tabelle). Fokussieren Arzt und Patient auf das Erreichen von Schmerzfreiheit, birgt das die Gefahr unnötiger Diagnostik, zahlreicher unzureichender Therapieversuche und häufiger Arztwechsel, was letztlich der Arzt-Patient-Beziehung nachhaltig schadet.

Wesentliches Merkmal einer guten Versorgung von Patienten mit chronischen Erkrankungen ist die kontinuierliche strukturierte Begleitung der Patienten. Dabei sollten aktuelle Beschwerden, Lebensqualität, Gesundheitsverhalten und Krankheitsüberzeugungen regelmäßig erhoben werden. Die Eigenverantwortung und das Selbstmanagement des Patienten sollen gestärkt werden. Übertragen auf die Begleitung von chronischen Schmerzpatienten bedeutet das, dass regelmäßige Arzt-Patienten-Kontakte notwendig sind, bei denen der Hausarzt das aktuelle Befinden, das Aktivitätsniveau, die Bewältigung des Alltags (inklusive Beruf), die soziale Einbettung und die Stimmung erhebt. Es ist anzunehmen, dass durch eine derartig strukturierte Behandlung die Arzt-Patienten-Beziehung entlastet wird, da der Hausarzt seine Patienten auch in Phasen geringerer Beeinträchtigung durch Schmerzen erlebt. Die Schmerzlinderung rückt aus dem Fokus des Gespräches, depressive Komorbidität kann früher erkannt werden, Aktivitätsverhalten und Selbstmanagement finden ihren Platz in der Beratung.

Erschwerte Therapie bei älteren Schmerzpatienten

Eine häufige Patientengruppe in hausärztlichen Praxen sind ältere Patienten mit Rückenschmerzen. Sie sind dafür bekannt, ihre Schmerzen beim Arzt nicht zu thematisieren, obwohl sie sich stark beeinträchtigt fühlen. Spezifische Rückenschmerzen sind in höherem Alter häufiger. Meist sind die Patienten multimorbide und nehmen aus diesem Grund eine Vielzahl von Medikamenten ein, was die Wahl einer geeigneten Schmerztherapie erschwert. Unerwünschte Arzneimittelwirkungen der NSAR wie gastrointestinale Blutungen treten häufiger bei älteren Patienten auf als bei jüngeren. Alternativen wie Cox-2-Hemmer können bei kardial vorgeschädigten Patienten nicht eingenommen werden, Muskelrelaxantien und Opioide erhöhen das Sturzrisiko und einfache Analgetika müssen bei eingeschränkter Nieren- und Leberfunktion mit Vorsicht eingesetzt werden. Gleichzeitig müssen Interaktionen mit anderen Medikamentengruppen (Beispiel: NSAR – Kardiaka) bedacht werden. Eine einfache Lösung des Dilemmas gibt es nicht. Es bleibt nur, die Patienten aktiv auf ihre Schmerzen anzusprechen, Therapie­optionen individuell abzuwägen und zu priorisieren, verstärkt nicht medikamentöse Therapien einzusetzen, die Patienten engmaschig zu beobachten und gut über unerwünschte Ereignisse aufzuklären.


Literatur
1. Bundesärztekammer (BÄK), Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) (2011) Nationale VersorgungsLeitlinie Kreuzschmerz – Langfassung Version 1.2. www.versorgungsleitlinien.de. Accessed 03 Oct 2012
2. Hancock MJ, Maher CG, Laslett M et al. (2011) Discussion paper: what happened to the 'bio' in the bio-psycho-social model of low back pain? Eur Spine J 20: 2105–2110
3. Hensler S, Heinemann D, Becker MT et al. (2009) Chronic pain in German general practice. Pain Med 10: 1408–1415
4. Nicholas MK, Linton SJ, Watson PJ et al. (2011) Early identification and management of psychological risk factors ("yellow flags") in patients with low back pain: a reappraisal. Phys Ther 91: 737–753
5. Viniol A, Jegan N, Leonhardt C et al. (2012) Prävalenz, Ausprägung und Komorbiditäten bei Patienten mit lokalen versus generalisierten Kreuzschmerzen in der Hausarzt-Praxis (LOGIN-Studie). Z Allg Med: 87

Interessenkonflikte:
Die Autorin gehörte zum wissenschaftlichen Beirat des Projekts „Versorgungsatlas Schmerz“ der Firma Grünenthal GmbH und hat hierfür Reisekosten erstattet bekommen (2008 – 2011).

Prof. Dr. med. Annette Becker, MPH


Kontakt:
Prof. Dr. med. Annette Becker, MPH
Abteilung für Allgemeinmedizin, präventive und rehabilitative Medizin
Philipps Universität Marburg
35032 Marburg

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2012; 34 (20) Seite 12-15