Fast alle unsere Patienten und Patientinnen erleben einmal im Leben eine schwere psychische Belastung, ein Psychotrauma. Jeder Hausarzt bzw. oft sogar die MFA hat immer wieder mit diesen trauernden, geschockten, eben „traumatisierten“ Menschen zu tun. Dieser Artikel soll frühe Interventionsmöglichkeiten nach Trauma aufzeigen, die gerade den nicht psychotherapeutisch geschulten KollegInnen zur Verfügung stehen. Es geht darum, früh nach dem Trauma die richtigen Weichen zu stellen, um eine posttraumatische Belastungsstörung zu verhindern.

Betroffene Patienten bitten uns häufig nicht direkt um „erste Hilfe nach Trauma“, sondern klagen über Schlafpro­bleme, körperliche Symptome, innere Abwesenheit, Alpträume, Nervosität, Unlust und viele andere Symptome.

Die Patienten erwarten aber von uns, dass wir sie dann auf ein Trauma ansprechen. Sind wir dazu befähigt und trauen wir uns? Ziel meines Traumaseminars ist es, u. a. mit vielen praktischen Übungen die Angst vor Traumatisierten zu nehmen.

Mit welchen Traumata haben wir in der Praxis zu tun?

  • Verlust von Angehörigen oder Freunden
  • Mitteilung einer lebensbedrohlichen Diagnose
  • Medizinische Eingriffe, Krankenhausaufenthalt
  • Vergewaltigung und andere Gewalterlebnisse
  • Migrationstraumata (Folter, Verfolgung, Krieg ...)
  • Unfälle
  • Arbeitsplatzverlust
  • Alte Kriegserlebnisse

Definition Trauma

Im DSM-IV (Diagnostic Statistical Manual IV, American Psychiatric Association, 1994) wird Trauma folgendermaßen definiert: „Die Person erlebte, beobachtete oder war mit einem oder mehreren Ereignissen konfrontiert, die tatsächlichen oder drohenden Tod oder ernsthafte Verletzung ... der eigenen Person oder anderer Personen beinhalteten. Die Reaktion darauf umfasste intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen.“

Häufigkeit

Während belastende Ereignisse fast jeden Menschen im Laufe eines Lebens betreffen, haben neuere Forschungen ergeben, dass bei 10 - 15 % (!!) der PatientInnen in Allgemeinpraxen die Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung (PTSD) gestellt werden dürfte.

Symptome nach einer Traumatisierung

Traumatisierte verhalten sich oft auffällig. Entweder sind sie still und zurückgezogen, vermeiden Kontakte selbst mit ehemaligen Freunden und Familienangehörigen. Oder sie sind übererregt, nervös, aggressiv. Hauptsymptomgruppen sind:

  1. Übererregung mit hohem RR, Herzrasen etc.
  2. Dissoziative Symptome und Vermeidungsverhalten sowie
  3. Intrusionen: Flashbacks (plötzliches Wiedererleben des Traumas) und Alpträume

„Erste Hilfe“-Möglichkeiten nach Traumata

Es ist wichtig zu wissen und es den Menschen nach einem Trauma zu sagen, dass alle diese Reaktionen normal sind. Sie sind nicht Zeichen einer Krankheit. Diese Menschen sind also nicht verrückt, wie sie oft selbst glauben, sondern reagieren normal auf ein völlig abnormales Erlebnis, das jenseits all ihrer Vorstellungskraft war. „Sie müssen diese Symptome haben, weil Sie etwas sehr schweres hinter sich haben, daran sehe ich, dass Sie nicht verrückt, sondern psychisch normal sind“, könnten etwa die Worte des Arztes lauten.

Alle vorhandenen Ressourcen der Betroffenen sollten mobilisiert werden. Das hilft auch, schwerste Belastungen zu überstehen und irgendwann, manchmal bald, als einen Teil seiner eigenen Geschichte zu begreifen. Vieles davon können Freunde und Mitmenschen leisten. Dann kann das traumatische Ereignis als überlebt und überstanden bewertet in der persönlichen Vergangenheit abgelegt werden.

Es ist zudem wichtig, früh der massiven Übererregung gegenzusteuern, unter der die Überlebenden massiv leiden. Dazu gehören leicht erlernbare Atemübungen, Entspannungstechniken, aber auch Aufklärung über die Ursachen dieser lästigen Symptome wie Herzrasen, Nervosität, Schlafstörungen etc. Auch scheinbar unwichtige Maßnahmen wie Sport und Bewegungsübungen sind höchst wirksam bei der Verbesserung der Gefühlssituation eines traumatisierten Menschen.

Das „Personal Debriefing“ (siehe unten) ist eine relativ neue Technik, vom Autor modifiziert, die es sehr früh nach dem Trauma erlaubt, u. a. strukturiert über das Erlebte zu sprechen und früh zu lernen, die kognitive Erinnerung von den Emotionen zu trennen. Dies scheint derzeit die beste Methode zur Vermeidung von „Flashbacks“ und Alpträumen zu sein.

Posttraumatic Growth ist eine relativ neue Erkenntnis, dass man auch nach schweren Traumata an dieser Erfahrung wachsen kann. Dies früh nach dem Trauma denken zu können, ist einer der positivsten prospektiven Faktoren nach Trauma.

Personal Debriefing

Das psychologische „Critical Incidence Stress Debriefing - CISD“ wurde 1983 von Jeffrey Mitchell in den USA entwickelt und wird in Dutzenden Ländern routinemäßig in Gruppen benützt. Dr. Peter Schröder entwickelte es 1997 weiter zum „Personal Debriefing“, welches vor allem für Einzelpersonen und so für die Praxis geeignet ist.

Indikationen:

  • Alpträume, Flashbacks
  • Ständige, nicht zu unterdrückende Gedanken an das Trauma
  • Trauma liegt noch nicht lange zurück
  • Trauma ist „irgendwie noch nicht erledigt“
  • Starke Schuldgefühle
  • Starke Emotionen aller Art, die zum Kontrollverlust führen.

Die Prinzipien sind

  1. eine strikte Trennung zwischen Emotionen und Fakten im Gespräch über das Erlebte,
  2. eine frühestmögliche Sinnfindung („was könnte ich lernen von diesem schrecklichen Ereignis?“) im Trauma und
  3. ein abschließendes Symbol, das der Betroffene für sich selbst findet, um das Erlebte in seine Lebensgeschichte besser integrieren zu können.

Der Zeitaufwand für diese ein bis zwei Gespräche beträgt ca. zwei Stunden, man kann diese Methode in zwei- bis dreitägigen Kursen lernen. Ein Beispiel findet sich in untenstehender Kasuistik.

Kasuistik:

Die 35-jährige Frau N. wird schuldlos beim Fahrradfahren von einem Auto gestreift und kommt zu Fall. Nach etwa zwei Wochen bekommt sie Alpträume, in denen sie sich hilflos und verlassen fühlt, sie erschrickt oft, wenn sie an den Unfall erinnert wird, ist nervös, aggressiv zu ihren Kindern und schläft schlecht ein. Sie hat Angst in verschiedenen Situationen (im Bus, in der Straßenbahn, beim Einkaufen) und leidet darunter.

Ein „Personal Debriefing“ sieht in diesem Fall so aus: Der Behandler rekonstruiert minutiös den Ablauf des Unfalls, bespricht danach ausführlich die Gefühle der Patientin im Unfallmoment (Schreck, Hilflosigkeit, Ohnmacht) und die Wut auf den Unfallverursacher, Erleichterung über die leichten Verletzungen, Schuldgefühle („Warum musste ich da an dem Tag entlangfahren?“). Was hat sie gelernt? Sie freut sich zu leben, findet gute Beziehungen wichtiger als früher, schätzt die Gesundheit ihrer Kinder mehr als sonst, ist liebevoller zu ihnen und zum Partner geworden, will überlegen, was sie eigentlich aus ihrem Leben noch alles machen will.

Dies ist ein ziemlich typischer Verlauf nach einer Typ-I-Traumatisierung. Wichtig waren die baldige Rückkehr zur Arbeit und sonstigen Normalität, eine genaue Rekonstruktion des Erlebten und die frühe „Sinnfindung“, wie Mitchell dies nannte (siehe auch Debriefing-Kasten), die ihr erlaubte, das Erlebte symbolisch abzuschließen und sich wieder auf die Zukunft freuen zu können.


Fazit

Wir haben mehr traumatisierte Menschen in der Praxis, als wir ahnen. Ca. 18 % der Betroffenen entwickeln eine posttraumatische Belastungsstörung. Die Symptome zu erkennen ist Voraussetzung für das weitere Handeln. Lange vor und häufig anstatt einer Fachpsychotherapie kann der Hausarzt viel Gutes für einen solchen traumatisierten Menschen tun. Dazu gehören vor allem eine gute Kommunikation und eine ressourcenorientierte Grundeinstellung.


Literatur
1. Willi Butollo U.a.: “Leben nach dem Trauma“, Pfeiffer, 1998 Leben lernen 125
2. Reddemann: Behandlung von Traumafolgen mit ressourcenorientierten Verfahren, Pfeiffer, Leben Lernen 141
3. Fischer: Neue Wege nach dem Trauma (Information und Hilfe für Betroffene, Vasalius Verlag Konstanz

Interessenkonflikte:
keine deklariert

Dr. med. Peter Schröder


Kontakt:
Dr. med. Peter Schröder
Facharzt für Allgemeinmedizin, Psychotherapie
79106 Freiburg/Brsg.


Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2011; 33 (20) Seite 50-54