Die Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) - eine häufige kinder- und jugendpsychiatrische Störung - setzt sich bei bis zu 35 % der Betroffenen mit relevanten Symptomen bis ins Erwachsenenalter fort. Häufige komorbide psychiatrische Erkrankungen sind Alkohol- und Drogenmissbrauch, aber auch sogenannte rezidivierende kurze depressive Störungen, Schlafstörungen oder dissoziales Verhalten. Die hausärztliche Praxis dürfte angesichts der initial oft diffusen und unspezifischen Beschwerden und Beeinträchtigungen eine häufige erste Anlaufstelle für Betroffene darstellen [1, 6, 7, 8].

Das klinische Bild der ADHS bei Erwachsenen zeichnet sich durch problematische Verhaltensweisen aus, von denen die eine oder andere im Vordergrund stehen mag. Durch gezieltes Nachfragen kann dann die Palette weiterer Auffälligkeiten eventuell ergänzt werden, um eine entsprechende Verdachtsdiagnose formulieren zu können. An vier für die Bewältigung des Alltags relevante Bereiche sollte dabei gedacht werden:

  • mangelnde Alltagsorganisation mit ständiger Neigung, sich zu verzetteln, häufige ungewollte Unpünktlichkeit,
  • chaotische, ineffiziente Arbeitsweise mit vielen Flüchtigkeitsfehlern und Tagträumereien,
  • schlechte Impulskontrolle mit häufiger Neigung zu voreiligen Entscheidungen (z. B. häufige unüberlegte Geldausgaben) und überschießenden emotionalen Reaktionen,
  • emotionale Labilität mit kurzdauernden, reaktiv ausgelösten depressiven Stimmungseinbrüchen und Angstgefühlen.

Dieses Verhalten ist dabei so ausgeprägt, dass es negative alltagspraktische Konsequenzen hat, wie z. B.:

  • geringeres Funktionsniveau in Partnerschaft und Familie,
  • geringeres berufliches Leistungsniveau,
  • eingeschränkte Fahrtüchtigkeit.

Epidemiologie und Ätiologie

Die Prävalenz von ADHS im Kindesalter liegt bei 3 - 5 %. Langzeituntersuchungen zeigen eine Persistenz einer ADHS ins Erwachsenenalter bei 36 - 49 % der ursprünglich Betroffenen. Männer sind öfter betroffen als Frauen. Hinsichtlich der Ätiologie sind neurobiologische Funktionsstörungen wesentlich. Man geht davon aus, dass eine Dysregulation vor allem der dopaminergen Neurotransmission vorliegt, verbunden mit z. B. „Sensation-Seeking-Behaviour“ (Hochrisikoverhalten). Es wird diskutiert, ob zwei Störungssubtypen vorliegen: zum einen mit Beteiligung des noradrenerg gesteuerten posterioren Aufmerksamkeitssystems des Parietallappens, zum anderen ein dopaminabhängiger Subtyp mit Funktionsstörungen des präfrontalen Kortex (vgl. weiter unten medikamentöse Behandlung der ADHS).

Aus neuropsychologischer Sicht liegen Störungen exekutiver Funktionen vor mit einer Beeinträchtigung der selektiven Aufmerksamkeit (hohe Empfindlichkeit gegenüber [Umgebungs-]Störfaktoren), der geteilten Aufmerksamkeit (Schwierigkeiten beim Multitasking) sowie beim Wechsel des Aufmerksamkeitsfokus und beim Aufrechterhalten der Aufmerksamkeit bei Dauerbelastung. Testpsychologische Untersuchungen können ergänzend zur Diagnosesicherung eingesetzt werden. Es gibt aber keinen Testwert, der die klinische Diagnose ersetzt [7].

Psychiatrische Klassifikation

Zwar enthalten sowohl die ICD-10 der WHO [5] als auch die amerikanische psychiatrische Klassifikation DSM-IV-TR [2] Kriterienkataloge, um die Diagnose einer ADHS zu stellen. Allerdings sind beide Kriterienkataloge für das Kindesalter konzipiert und auf die Fremdbeurteilung durch z. B. Eltern und Lehrer zugeschnitten. Demgegenüber sind die sogenannten Wender-Utah-Kriterien (vgl. Übersicht 1) für Erwachsene konzipiert und berücksichtigen auch das subjektive Erleben der Patienten.

Selbstbeurteilungsskala

Die Diagnose einer ADHS wird laut Arzneimittelrichtlinien von einem Spezialisten für Verhaltensstörungen klinisch gestellt auf der Grundlage eines Gesprächs mit dem Patienten und, wenn möglich, eines nahen Angehörigen. Dabei kann der erhobene psychopathologische Befund durch den Einsatz von standardisierten Symptomskalen ergänzt werden. Es empfiehlt sich die Wender-Utah-Rating-Scale (WURS), die in einer deutschen Kurzform vorliegt und retrospektiv mittels Selbstbeurteilung das Vorliegen einer ADHS im Kindesalter zu erfassen sucht (Übersicht 2). Die WURS ist ein Screeningverfahren, das lediglich eine Aussage darüber zulässt, ob in Kindheit und Jugend eine ADHS-Verhaltenssymptomatik vorgelegen haben könnte [10]. Auf ihrer Grundlage allein kann die Diagnose einer ADHS im Erwachsenenalter nicht gestellt werden.

Psychiatrische Komorbidität

Neben den bereits beschriebenen funktionellen Beeinträchtigungen im Alltag, die den Patienten zur Vorstellung beim Allgemeinarzt anregen können, ist vor allem auch die psychiatrische Komorbidität häufig ein großes Problem. Sie dürfte sogar oft das klinische Bild beherrschen und einen Arztbesuch veranlassen.

Im Vordergrund stehen dabei deutlich erhöhte Prävalenzraten für Alkohol- und Drogenmissbrauch. Langzeituntersuchungen zeigen bei erwachsenen Patienten mit ADHS in ca. 25 % einen komorbiden Alkohol- und in 30 - 38 % einen komorbiden Drogenmissbrauch. Des Weiteren findet sich eine erhöhte Rate dissozialer Persönlichkeitsstörungen, deren Häufigkeit in prospektiven Studien mit bis zu 23 % angegeben wird. Auf eine möglicherweise erhöhte Prävalenz von rezidivierenden kurzen depressiven Störungen wurde bereits hingewiesen. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie ca. einmal im Monat auftreten, typischerweise zwei bis drei Tage andauern, worauf sich die betroffenen Patienten dann wieder vollständig erholen.

Schließlich sei auf ein mögliches häufigeres Auftreten von Schlafstörungen bei Patienten mit ADHS hingewiesen. Zudem kann es bei den Betroffenen bei als „langweilig“ erlebten ruhigen Beschäftigungen zu einem starken Schlafbedürfnis kommen (z. B. in Besprechungen, Sitzungen, Vorlesungen oder Seminaren).

Psychotherapie

Die Behandlung der ADHS im Erwachsenenalter stützt sich, abgesehen von der Aufklärung der Angehörigen, auf eine medikamentöse, aber auch auf eine psychotherapeutische Perspektive. Psychotherapeutische Interventionen sollen das unstrukturierte Organisations- und Vermeidungsverhalten optimieren helfen: Sie arbeiten am sozialen Interaktionsstil, entwickeln Copingstrategien und sollen dazu beitragen, das Selbstwertgefühl zu verbessern. Eingesetzt werden verhaltenstherapeutische Programme mit einem stark strukturierten und zeitlich begrenzten Gruppensetting (z. B. Freiburger Gruppentherapieprogramm), in dem u. a. psychosoziale Folgen und typische Komorbiditäten von ADHS besprochen werden [6, 8, 11]. Unter Verwendung von Hausaufgaben sollen alternative Verhaltensweisen und Copingstrategien eingeübt werden. Problematisch ist hier sicherlich, dass störungsspezifische psychotherapeutische Angebote für erwachsene Menschen mit ADHS noch recht selten sind.

Medikamentöse Therapie

Während die Möglichkeiten einer psychotherapeutischen Behandlung der ADHS bei Erwachsenen trotz vielversprechender Studien [6, 11] noch verhältnismäßig wenig bekannt sind, gilt dies nicht für die medikamentösen Behandlungsstrategien. Psychostimulanzien sind nicht nur bei Kindern, sondern auch bei Erwachsenen Mittel der ersten Wahl. Mit einer Response-Rate von 70 % zeigt die Therapie mit Psychostimulanzien bei Erwachsenen eine gute Wirksamkeit.

Hinsichtlich des Einsatzes von Psychostimulanzien ist zunächst einmal darauf hinzuweisen, dass ihr Einsatz bei Erwachsenen eine Off-Label-Indikation darstellt. Einzige Ausnahme stellt das Präparat Medikinet® adult dar, das seit dem 15. April 2011 zur Behandlung Erwachsener zugelassen ist und voraussichtlich im Sommer verfügbar sein wird.

Auch gibt es Kriterien des Bundessozialgerichts zur zulassungsüberschreitenden Anwendung eines Arzneimittels, die bei der Verschreibung von Psychostimulanzien zum Einsatz kommen könnten, was aber dennoch ohne Zweifel eine Erschwernis beim Einsatz dieser Substanzen bei Erwachsenen mit ADHS bedeutet (vgl. Übersicht 3).

In den Übersichten 4 bis 7 werden Aspekte des Einsatzes von Methylphenidat, dem Mittel der ersten Wahl bei ADHS im Erwachsenenalter, übersichtsartig dargestellt [3]. Methylphenidat liegt auch in einer retardierten Formulierung vor (z. B. Concerta®). Eine weitere medikamentöse Therapieoption ist Atomoxetin (Strattera®), dessen Einsatz bei Erwachsenen allerdings ebenfalls eine Off-label-Indikation darstellt. Zugelassen ist allerdings die Fortführung einer Medikation mit Atomoxetin im Erwachsenenalter, die bereits im Kindes- und Jugendalter begonnen wurde.

Bei begleitender oder im Vordergrund stehender depressiver Symptomatik ist an Antidepressiva mit noradrenergem Schwerpunkt zu denken, wie z. B. Reboxetin oder Nortriptylin. Auch Bupropion mit einer kombinierten Noradrenalin- und Dopaminrückaufnahmehemmung könnte erwogen werden [4]. In all diesen Fällen ist allerdings u. a. zur differenzialdiagnostischen Gewichtung der vorliegenden Komorbidität ein psychiatrisches Konsil zu empfehlen.

Psychostimulanzien bei Komorbidität

Der Einsatz von Psychostimulanzien, die ja über ein Abhängigkeitspotenzial verfügen und BTM-pflichtig sind, bei erwachsenen Patienten mit ADHS und komorbidem Substanzabusus wird kontrovers diskutiert [9]. Immerhin gibt es Hinweise darauf, dass bei jugendlichen Patienten mit ADHS eine Behandlung mit Psychostimulanzien einen protektiven Faktor bezüglich der Entwicklung von Abhängigkeitserkrankungen darstellt [8].

Kasuistisch ist der erfolgreiche Einsatz von Methylphenidat bei Patienten mit schwer behandelbarer Alkoholabhängigkeit bzw. Polytoxikomanie beschrieben, der erst nach vergeblichen Versuchen mit noradrenergen bzw. dopaminergen Antidepressiva zu einer nachhaltigen Besserung der Abhängigkeitsproblematik führte [12]. So wird, wenn Entgiftung und ggf. Entwöhnung erfolgreich abgeschlossen sind und Abstinenz vorliegt, die Verordnung von Methylphenidat als Mittel der ersten Wahl auch in der Therapie der ADHS bei komorbider Suchterkrankung zu erwägen sein [9].

Fazit für die Praxis

Aufgrund der negativen psychosozialen Konsequenzen und der häufig vorliegenden psychiatrischen Komorbidität mit im Vordergrund stehendem Problem des Substanzmissbrauchs stellt die ADHS bei Erwachsenen keine Modediagnose dar. Ihre fachgerechte Behandlung führt vielmehr zu einer guten Besserung des Leidens der Betroffenen. Voraussetzungen hierfür sind aber eine fachgerechte Diagnosestellung sowie, gerade im Falle einer komorbiden Abhängigkeitserkrankung, die erfolgreich abgeschlossene Entgiftung und ggf. Entwöhnung und die Abstinenz.

Eine begleitende psychotherapeutische Behandlung mit verhaltenstherapeutischem Schwerpunkt ist neben der medikamentösen Behandlung als zweiter Pfeiler wichtig. Eine Behandlung sollte langfristig geplant werden, bei medikamentöser Therapie sind ggf. Absetzversuche nach Besserung oder Remission zu erwägen [6, 7, 8]. Patienten und Angehörige sollten ermutigt werden, ergänzend die Angebote von Selbsthilfegruppen und Ratgebern für Betroffene in Anspruch zu nehmen.


Literatur
1. Alm B, Sobanski E (2004) Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei Erwachsenen. Der Nervenarzt 7: 697-71
2. American Psychiatric Association (2000) Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders. 4. Ed., Text Revision. American Psychiatric Association, Washington, DC
3. Benkert O (2010) Pocket Guide Psychopharmaka von A bis Z. Springer Medizin Verlag, Heidelberg
4. Benkert O, Hippius (2009) Kompendium der Psychiatrischen Pharmakotherapie. 7. Aufl., Springer Medizin Verlag, Heidelberg
5. Dilling H, Mombour W, Schmidt MH (2009) WHO Internationale Klassifikation psychischer Störungen, ICD-10 Kapitel V (F) klinisch-diagnostische Leitlinien. 7. Aufl., Hans Huber, Bern
6. Ebert D, Hesslinger B (2009) Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) des Erwachsenenalters. In: Berger M (Hrsg.) Psychische Erkrankungen, Klinik und Therapie. 3. Auflage, Urban & Fischer, München: 951-962
7. Ebert D, Krause J, Roth-Sackenheim C (2003) ADHS im Erwachsenenalter – Leitlinien auf der Basis eines Expertenkonsensus mit Unterstützung der DGPPN. Der Nervenarzt 10:939-946
8. Matthies S, Hesslinger B, Philipsen A (2007) Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivi-tätsstörung (ADHS) im Erwachsenenalter. Psychiatrie und Psychotherapie up2date 1:433-440
9. Paslakis G, Kiefer F, Diehl A et al. (2010) Methylphenidat Therapieoption bei ADHS und Suchterkrankungen im Erwachsenenalter? Der Nervenarzt 81:277-288
10. Retz-Junginger P, Retz W., Blocher D et al. (2003) Reliabilität und Validität der Wender-Utah-Rating-Scale-Kurzform. Retrospektive Erfassung von Symptomen aus dem Spektrum der Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung. Der Nervenarzt 74: 987-993
11. Safren SA, Sprich S, Mimiaga MJ et al. (2010) Cognitive behavioral therapy vs relaxation with educational support for medication-treated adults with ADHD and persistent symptoms. JAMA 304(8):875-880
12. Wolf U, Golombek U, Diefenbacher A (2006) Diagnostik und Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei substanzabhängigen Erwachsenen im stationären und ambulanten Setting. Psychiat P

Interessenkonflikte:
Der Autor erhielt Vortragshonorare von Janssen-Cilag.

Prof. Dr. med. Albert Diefenbacher MBA


Kontakt:
Prof. Dr. med. Albert Diefenbacher MBA
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie
Facharzt für Pschosomatik und Psychotherapie
Ev. Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge gGmbH
10365 Berlin

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2011; 33 (10) Seite 16-19