Keine andere Todesart hinterlässt bei Freunden und Angehörigen so viele Scham- und Schuldgefühle, so viel Schmerz und Verwirrung wie eine Selbsttötung. Depressive Reaktionen, Arbeitsunfähigkeit, selbst weitere Suizide können ausgelöst werden. Auch wenn geglückte, versuchte oder gescheiterte Suizide nicht zu den regelmäßig häufigen, hausärztlichen Beratungsanlässen gehören, stellen sie für den Hausarzt eine in vielerlei Hinsicht schwierige und belastende Notfallsituation dar.

Nach Schätzungen der WHO gibt es weltweit etwa 1 Million Suizide pro Jahr [4]. Ihre Rate ist stark geschlechtsabhängig und in Deutschland innerhalb der letzten Jahre bei Männern meist mehr als doppelt so hoch wie bei Frauen (Abb. 1). Die Zahl der Suizidversuche kann nur geschätzt werden, man geht aber von zehn- bis zwanzigmal mehr Versuchen als vollendeten Suiziden aus [1], wobei die Zahl der Suizidversuche bei Frauen weit höher ist als bei Männern. Das Verhältnis finaler Selbsttötungshandlungen zu Suizidversuchen beträgt hingegen bei Männern etwa 1 : 3, bei Frauen 1 : 10. Der Suizid nimmt innerhalb der unnatürlichen Todesursachen Deutschlands [5, 6, 7] eine Spitzenstellung ein, noch deutlich vor der Zahl der durch Verkehrsunfälle oder Gewaltverbrechen zu Tode gekommenen Menschen (Abb. 1).

Hausärztliche Relevanz

Die spezifisch hausärztliche Relevanz von Suiziden entsteht aus der Tatsache, dass die überwiegende Mehrzahl der Patienten im Vorfeld des Suizids oder des Suizidversuchs den Arzt des Vertrauens aufsucht und unter Umständen Hinweise auf Suizidabsichten gibt [12].

Begriffsbestimmungen

Neben den Begriffen Suizid oder Selbsttötung (Kasten 1) sind in der deutschen Umgangssprache ältere Bezeichnungen wie Selbstmord und Freitod verbreitet. Mit Selbstmord wird die Selbsttötung gleichsam als Verbrechen diskriminiert [8], obwohl dem Suizid die für einen Mord typischen Mordmerkmale (Mordlust, Befriedigung des Geschlechtstriebes, Habgier, Heimtücke, Grausamkeit) fehlen. Ähnlich problematisch ist der Terminus Freitod einzustufen. Diese Bezeichnung geht davon aus, dass sich ein Mensch im vollen Bewusstsein seines Geistes freiwillig und selbstbestimmt tötet. Dies dürfte jedoch kaum zutreffen, da die Entscheidungsfreiheit bei einer suizidalen Person in der Regel stark eingeschränkt ist [3].

Suizidalität ist der Überbegriff für die Gesamtheit aller Denk- und Verhaltensweisen eines Menschen, die selbstdestruktiven Charakter haben und das eigene Sterben direkt oder indirekt in Kauf nehmen sowie aktiv oder durch Unterlassung anstreben. Suizidalität ist meist Ausdruck einer Einengung durch objektiv oder subjektiv erlebte Belastungssituationen sowie durch körperliche und psychische Störungen des Erlebens und Empfindens. Das Adjektiv suizidal bedeutet im eigentlichen Wortsinn „zum Suizid neigend“ oder „den Suizid betreffend“.

Die bewusste, selbst durchgeführte und beabsichtigte Tat, die die Selbsttötung anstrebt oder zum Tode führt, wird als suizidale Handlung bezeichnet. Sie kann in den vollendeten Suizid oder in einen Suizidversuch münden.

Alle Handlungen oder Unterlassungen, die zwar den eigenen Tod direkt oder indirekt bezwecken, jedoch nicht herbeiführen, werden als Suizidversuch bezeichnet. Dazu zählt auch, wenn die Handlung unterbrochen wurde, ehe eine tatsächliche Schädigung eintrat.

Handlungen, die keine ernsthafte Lebensgefahr nach sich ziehen, werden als Suizidgesten bezeichnet. Unter Suiziddrohungen werden alle verbalen Äußerungen oder Handlungen verstanden, die selbstschädigendes Verhalten ankündigen. Die gedankliche Auseinandersetzung mit der Selbsttötungsmöglichkeit von der Erwägung (Todeswünsche) bis zum Entschluss nennt man Suizididee.

Schnittstellen mit anderen Störungsbildern

Überschneidungen und Beziehungen bestehen zu Krankheitsbildern mit Störungen der Impulskontrolle ohne suizidalen Charakter, etwa der Trichotillomanie, oder zu primär nicht suizidalen autoaggressiven Verhaltensweisen wie chronische Selbstverletzungen. In die gleiche Gruppe können auch ein bewusst riskantes Freizeitverhalten („Risikosportarten“) sowie „der psychogene Tod“ („Sterben vor Sehnsucht“) eingeordnet werden [9].

Formen des Suizids mit Hinweisen zu den Entstehungstheorien

In der Suizidologie werden zahlreiche Formen der Selbsttötung mit verschiedensten Ursachen unterschieden [2, 10]. Exemplarisch sollen einige hausärztlich relevante Beispiele genannt werden. Dem gemeinsamen Suizid zweier oder mehrerer Personen liegen freiwillige Übereinkunft und Einwilligung der Beteiligten zugrunde (z. B. Kronprinz Rudolf von Habsburg und Maria von Vetsera, Stefan Zweig mit seiner zweiten Ehefrau).

Beim erweiterten Suizid (Mitnahmesuizid) hingegen werden neben der Selbsttötung andere Personen ohne deren Einverständnis oder Mitentscheidung in das eigene suizidale Geschehen inkludiert. Vorkommen: nicht selten bei Eltern mit zugrundeliegenden psychischen (affektive Störungen, Schizophrenie) und/oder sozialen Problemen. Sie wollen ihre Kinder mit in den Tod nehmen, weil sie vermeintlich nicht ohne sie leben können oder um ihnen vermutetes Leid zu ersparen (Abb. 2).

Wird eine Suizidhandlung aus freiem Willen und bei völliger geistiger Gesundheit unter Bedingungen begangen, die ein Weiterleben unmöglich erscheinen lassen (z. B. Verfolgung, Vertreibung, Flucht, wirtschaftlicher Ruin), dann wird dies als Bilanzsuizid bezeichnet.

Von einem protrahierten Suizid wird bei chronisch selbstschädigendem Verhalten gesprochen, etwa bei Essstörungen (z. B. Anorexie, Bulimie) oder Suchterkrankungen. Der chronische Suizid wird als häufig oder auch konstant anhaltende suizidale Krise mit mindestens zwei Suizidversuchen oder anhaltenden Suizidankündigungen definiert.

Der medizinische Suizid ist als direkte Folge einer psychischen (z. B. Schizophrenie) oder körperlichen Erkrankung definiert. So konnte in einer kürzlich publizierten Studie [13] gezeigt werden, dass das relative Risiko eines Suizids im Vergleich zu Gesunden in der ersten Woche nach Befunderöffnung einer Krebserkrankung fast 12,6-mal höher war. Als besonders gefährdet erwiesen sich Patienten mit einer prognostisch ungünstigen Tumorerkrankung des Ösophagus, der Leber, des Pankreas oder der Lunge.

Methoden der Selbsttötung

Bei der Art, sich zu töten, wird zwischen „harten“ und „weichen“ Methoden unterschieden. Männer bevorzugen häufiger harte, Frauen weiche Methoden [2, 3, 11]. Harte Methoden führen naturgemäß eher zum Tod: Erhängen/Ersticken/Erdrosseln, der Sturz aus großer Höhe oder vor einen fahrenden Zug („Schienensuizid“), das Erschießen oder Sich-erschießen-Lassen („Suicide by cop“), Verbluten durch Stichverletzungen (Schlagader, Herz, Unterleib), der Ertrinkungstod, absichtlich verursachte Verkehrsunfälle („Auto-Suizid“) sowie die Selbstverbrennung.

Bei den „weichen“ Methoden stehen Vergiftungen (Schlaf-, Beruhigungs- und Schmerztabletten) an erster Stelle. Verwendet werden aber auch Pflanzenschutzmittel, Autoabgase oder Alkohol.

Suizidalität und Suizid: besondere Gefährdungen

Suizidalität ist ein multifaktorielles Geschehen [2, 3, 11], bei dem sich verschiedene Risikofaktoren addieren können. Bei circa 90 % aller Suizide liegen psychische Erkrankungen im engeren Sinn („Innenfaktoren“) vor: 40 - 60 % Depressionen, 20 % Alkoholismus und 10 % Schizophrenien, ca. 5 % Persönlichkeitsstörungen und 5 % Angsterkrankungen. Das Suizidrisiko ist bei psychischen Erkrankungen 15- bis 30-fach höher als in der Allgemeinbevölkerung.

„Außenfaktoren“ suizidaler Handlungen sind extrinsische Belastungen und Motive wie soziale Isolation, Arbeitslosigkeit, ökonomische Bedrohung (Existenznot), chronische oder unheilbare Erkrankungen, anhaltende Schlaflosigkeit, suizidales Verhalten in der Familiengeschichte, Strafverfahren, Verfolgung (politisch-rassisch-religiös), aber auch Führerscheinverlust, zerrüttete Partnerschaften, berufliches Versagen, Vereinsamung im Alter (vor allem der betagte Witwer), Jahrestagreaktionen auf die Ereignisse an erinnerungsschweren Daten. Aber: Suizidale Handlungen können auch organisch und psychisch gesunde Menschen betreffen, die auf eine akute krisenhafte, als unerträglich erlebte Belastungssituation mit einer Kurzschlusshandlung (Kurzschlusssuizid) reagieren.

Abschließende Bemerkungen

Die Suizidologie ist eine vergleichsweise junge Wissenschaft. Dies mag dazu führen, dass dem facettenreichen und komplexen Suizidproblem nicht immer der Stellenwert eingeräumt wird, der ihm aufgrund seiner Bedrohlichkeit und Häufigkeit eigentlich zustehen müsste. Aufgrund seiner primären Präsenz, seiner komplexen Kenntnisse der Persönlichkeit, der Vorgeschichte und des Umfelds des Betroffenen ist gerade der Hausarzt dazu prädestiniert, suizidale oder suizidgefährdete Patienten rechtzeitig zu erkennen, angemessen zu behandeln und geeignete präventive oder therapeutische Maßnahmen einzuleiten.


Literatur
1. Bronisch Th. Der Suizid. Ursachen, Warnsignale, Prävention. 5. Auflage Verlag C.H.Beck München 1995
2. Faust V. Psychosoziale Gesundheit von Angst bis Zwang. www.psychosoziale-gesundheit.net eingesehen am 31. 12. 2011
3. Grupp MO. Aggressive Persönlichkeitsmerkmale bei suizidalem Verhalten. Med. Diss. LMU München 2009
4. Lieb K, Frauenknecht S, Brunnhuber S. Intensivkurs Psychiatrie und Psychotherapie. 6. Auflage Urban & Fischer Verlag München 2008
5. Polizeiliche Kriminalstatistik 2005, 2006, 2007, 2008 in: www.bka.de eingesehen am 10. 06. 2012
6. Gesundheitsberichterstattung des Bundes in : www.gbe-bund.de eingesehen am 04. 06. 2012
7. Evangelische Nachrichtenagentur idea E.V. in: www.theologische-links.de eingesehen am 04. 06. 2012
8. Helmich P. Selbstmord: Ein Wort, das es nicht geben sollte. Dtsch Ärztebl. 2004; 101(23): A-1652
9. Knecht T. Der psychogene Tod. Fiktion oder Realität? Nervenheilkunde 2010; 29: 311-314
10. Hanten F. Selbstmorderfolg. Verlag Books on Demand GmbH Norderstedt 2005
11. Ajdacic-Gross V. Fakten über Suizid. ph I akzente 2007; 3: 3-6
12. Michel K. Suizide und Suizidversuche: Könnte der Arzt mehr tun? Ergebnisse einer Befragung Angehöriger von Suizidversuchern und Suizidopfern. Schweiz Med Wschr 1986; 116: 770-774
13. Fang F, Fall K, Mittleman MA et al. Suicide and cardiovascular death after a cancer diagnosis. N Engl J Med 2012; 366(14): 1310 - 1318

Interessenkonflikte:
keine deklariert

Dr. med. Fritz Meyer


Kontakt:
Dr. med. Fritz Meyer
Facharzt für Allgemeinmedizin
Facharzt für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde
Sportmedizin - Ernährungsmedizin
86732 Oettingen/Bayern

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2012; 34 (16) Seite 18-20