Brustschmerz gehört mit einer Prävalenz von 2 - 4 % zu den häufigen Beratungsanlässen in der hausärztlichen Praxis [1, 2]. Die Spannbreite der möglichen Ursachen ist breit. Diese unterscheiden sich hinsichtlich Häufigkeit, Bedrohlichkeit und den zu ergreifenden diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen. Anamnese und Befund helfen, die Anzahl der Verdachts- und Differenzialdiagnosen schrittweise auf eine überschaubare Anzahl zu reduzieren. Ziel der DEGAM-Leitlinie „Brustschmerz“¹ ist es, Hausärzten evidenzbasierte Empfehlungen im Hinblick auf die initiale klinische Einschätzung von Patienten mit Brustschmerz zu geben [3].

Der Fall

Ein 58-jähriger Patient erscheint nachmittags außerhalb der Sprechstunde nach telefonischer Ankündigung in der Praxis. Er ist Jurist und Geschäftsführer einer Investmentfirma, gelegentlich in der Praxis in Behandlung wegen Kleinigkeiten (Impfungen, eine Schnittwunde am Finger). Es ist bekannt, dass er eine erhebliche berufliche Belastung, große finanzielle Verantwortung und viele auswärtige Termine in ganz Deutschland und teilweise im Ausland hat. Er verspüre seit einigen Wochen immer wieder Schmerzen in der Herzgegend. Sein Vater sei in „genau diesem Alter“ an einem Herzinfarkt verstorben und er vermutet, dass auch seine Beschwerden „vom Herzen kommen“. Eine Abhängigkeit der Schmerzen von körperlicher Belastung verneint er. Die Schmerzen sind nicht durch Palpation auslösbar. Bis vor fünf Jahren hat er ca. zehn Zigaretten am Tag geraucht, weitere koronare Risikofaktoren sind nicht bekannt.

Fragestellungen

  • Welche Ursachen sind zu bedenken?
  • Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit einer KHK?
  • Was ist im Beratungsgespräch zu beachten?

Welche Ursachen sind zu bedenken?

Tabelle 1 nennt die für die hausärztliche Versorgungsebene relevanten Ursachen des Beratungsanlasses Brustschmerz und deren Häufigkeiten [1]. Hierbei stellt das prognostisch günstige Brustwandsyndrom die mit Abstand häufigste Ursache dar. Unter den gefährlich abwendbaren Verläufen kommt die koronare Herzkrankheit (stabile KHK und akutes Koronarsyndrom) am häufigsten vor und sollte daher immer in Betracht gezogen werden.

Wie wahrscheinlich ist eine KHK?

Ein einfach anzuwendendes Instrument zur Einschätzung der KHK-Wahrscheinlichkeit bei Brustschmerzpatienten ist der Marburger Herz-Score (Tabelle 2). Er wurde eigens für die hausärztliche Versorgungsebene entwickelt und an einer unabhängigen Stichprobe validiert [4]. Treffen weniger als drei Kriterien zu, liegt die Wahrscheinlichkeit einer KHK unter 5 %.

Im vorliegenden Fall sind drei Kriterien erfüllt und die klinische Wahrscheinlichkeit steigt auf 25 %. Hoch genug, um dem Patienten eine weitere spezifische Diagnostik zu empfehlen. Auch sollte bei einer erhöhten KHK-Wahrscheinlichkeit immer explizit auf Hinweise für ein akutes Koronarsyndrom (Blässe, Luftnot, Bradykardie/Tachykardie, Hypotonie/Hypertonie, feuchte RGs, Ruhe-, Crescendo- oder de-novo-Angina) geachtet und ein EKG geschrieben werden. Im vorliegenden Fall ist die Wahrscheinlichkeit eines ACS gering und das EKG zeigt einen normalen Befund.

Was sollte im Beratungsgespräch beachtet werden?

Bei drei von vier Patienten mit einem Scorewert von drei Punkten endet die kardiologische Diagnostik mit einem negativen Befund. Dies sollte bereits im Beratungsgespräch - vor jeglicher weiterführenden Diagnostik – mit dem Patienten kommuniziert werden. Dadurch reduziert sich die Wahrscheinlichkeit, dass sich bereits frühzeitig beim Patienten die Vorstellung verfestigt, an einer Herzerkrankung zu leiden. Studien zeigen, dass in solchen Fällen auch ein negativer Befund die Betroffenen häufig nicht davon überzeugt, keine Herzerkrankung zu haben [5 - 6]. Weiter sollen psychische, somatische und soziale Informationen von Beginn an parallel erhoben, verknüpft und mit dem Patienten besprochen werden. Dazu gehören Fragen nach der ätiologischen Selbsteinschätzung durch den Patienten, der Beeinträchtigung durch die Beschwerden und möglichen psychosozialen Einflussfaktoren.

Welche spezifischen diagnostischen Maßnahmen dienen dem Ischämienachweis?

Die Leitlinie gibt hierzu keine konkreten Empfehlungen, macht aber Angaben zur diagnostischen Aussagekraft, Kontraindikationen, Vor- und Nachteilen der einzelnen Verfahren. Da im vorliegenden Fall keine Kontraindikationen oder andere Faktoren vorliegen, die die Aussagekraft mindern (z. B. unzureichende körperliche Belastbarkeit, ST-Streckenveränderung in Ruhe), ist zunächst ein Belastungs-EKG sinnvoll.

Ausgehend von der noch relativ geringen Vortestwahrscheinlichkeit von 25 % reduziert das Fehlen eines positiven Befundes - definiert als belastungsinduzierte ST-Streckenveränderung (horizontale oder deszendierende ST-Senkung ≥ 1mm bzw. ST-Hebung ≥ 1mm ohne vorbestehende Q-Zacke, gemessen 60 - 80 msec hinter dem J-Punkt) - die KHK-Wahrscheinlichkeit auf ca. 10 %. Bei einer Vortestwahrscheinlichkeit von 50 % läge auch bei einem negativen Befund die KHK-Wahrscheinlichkeit immer noch bei knapp 30 % - zu hoch, um eine KHK zuverlässig auszuschließen.


Literatur
1. http://leitlinien.degam.de/index.php?id=950
2. Bösner S, Becker A, Haasenritter J, Abu Hani M, Keller H, Sönnichsen AC, Karatolios K, Schaefer JR, Seitz G, Baum E, Donner-Banzhoff N. Chest pain in primary care: Epidemiology and pre-work-up probabilities. Eur J Gen Pract. 2009;15(3):141-6.
3. Buntinx F, Truyen J, Embrechts P, Moreel G, Peeters R. Chest pain: an evaluation of the initial diagnosis made by 25 Flemish general practitioners. FamPract. 1991;8(2):121-4.
4. Haasenritter J, Bösner S, Klug J, Ledig T, Donner-Banzhoff N. DEGAM-Leitlinie Nr. 15: Brustschmerz. Z Allg Med. 2011;87(04):182-91.
5. Bösner S, Haasenritter J, Becker A, Karatolios K, Vaucher P, Gencer B, Herzig L, Heinzel-Gutenbrunner M, Schaefer JR, Abu Hani M, Keller H, Sönnichsen AC, Baum E, Donner-Banzhoff N. Ruling out coronary artery disease in primary care: development and validation of a simple prediction rule. CMAJ. 2010 Sep 7;182(12):1295-300.
6. Scholz M, Wegener K, Unverdorben M, Klepzig H. [Long-term outcome in patients with angina-like chest pain and normal coronary angiograms]. Herz. 2003;28(5):413-20.
7. Voelker W, Euchner U, Dittmann H, Karsch KR. Long-term clinical course of patients with angina and angiographically normal coronary arteries. ClinCardiol. 1991;14(4):307-11.
8. Mant J, McManus RJ, Oakes RA, Delaney BC, Barton PM, Deeks JJ, Hammersley L, Davies RC, Davies MK, Hobbs FD. Systematic review and modelling of the investigation of acute and chronic chest pain presenting in primary care. Health TechnolAssess. 2004;8(2):iii, 1-iii158.

Interessenkonflikte:
Die Autoren sind Autoren der DEGAM Leitlinie und an deren Verbreitung interessiert.

Jörg Haasenritter


Kontakt:
Jörg Haasenritter,
Prof. Dr. med. Norbert Donner-Banzhoff
Abteilung Allgemeinmedizin
Universität Marburg
35032 Marburg

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2012; 34 (7) Seite 36-39