Nackenschmerzen sind mit einer Punktprävalenz von etwa 10 - 15 % ein häufiger Beratungsanlass in der Hausarztpraxis. Nach ihrem klinischen Erscheinungsbild teilt man Nackenschmerzen ein in: akute (0 - 3 Wochen Dauer), subakute (4 - 12 Wochen Dauer), chronische (länger als 12 Wochen Dauer) und rezidivierende (beschwerdefreies Intervall maximal 4 Wochen) Schmerzen. Ziel der DEGAM-Leitlinie Nackenschmerzen1 ist es, das Vorgehen bei der Versorgung dieser Patienten zu vereinheitlichen. So sollen Chronifizierungen verhindert und Symptome nachhaltig gelindert werden.


Der Fall

Eine 42-jährige Patientin kommt mit Nackenstütze zu Ihnen in die Sprechstunde. Auf die Bitte um Präzisierung ihrer Beschwerden und Wünsche schildert die Patientin ungehalten, seit dem Wochenende wieder ihr „chronisches HWS-Syndrom“ zu haben. Schuld seien die Arbeit in der Firma und die fehlende Rücksicht ihrer Kollegen. Sie wolle jetzt eine „Überweisung zum Röntgen, am besten in die Röhre“. Im weiteren Gespräch äußert die Patientin zudem den Wunsch nach einem stark wirkenden Schmerzmittel und Massagen. Aus der Anamnese ist bekannt, dass sie nach einer gescheiterten Ehe aus der benachbarten Großstadt wieder zu ihrer Mutter gezogen ist, früher als Serviererin gearbeitet hat und jetzt als ungelernte Arbeitskraft in einer feinmechanischen Firma tätig ist. Es existieren zahlreiche fachärztliche Berichte, insgesamt ohne wegweisenden Befund. Die von der Patientin erwähnten röntgenologisch nachgewiesenen Schäden werden als mäßiggradige degenerative Veränderungen der unteren HWS beschrieben.

Bei der körperlichen Untersuchung findet sich eine druckdolente nuchale Muskulatur. Bei passiver Kopfrotation in Inklination äußert die Patientin beidseits bei 45 Grad starke Schmerzen. Der Tonus der Schultermuskulatur ist erhöht, die Schultergelenke sind frei beweglich. Die orientierende Prüfung der Hirnnerven sowie der Motorik und Sensibilität der Arme ist unauffällig. Hinweise auf eine Infektionserkrankung oder die Beeinträchtigung des Allgemeinzustands finden sich nicht. Die Frage nach sportlichen Aktivitäten wird mit einem knappen „Nein“ beantwortet.

Fragestellungen

  • Was sind abwendbar gefährliche Verläufe?
  • Soll bei der Patientin eine bildgebende Diagnostik erfolgen?
  • Welche Therapie ist zu empfehlen?

Abwendbar gefährliche Verläufe

Komplizierende Faktoren, die auf gefährliche Ursachen hinweisen (z. B. Dissektion, spontane Subarachnoidalblutung, Beginn eines epiduralen Hämatoms) werden oft nicht erkannt. Schwere körperliche Erkrankungen sind extrem selten und praktisch immer mit Auffälligkeiten in der Anamnese bzw. Untersuchung verbunden (z. B. zervikale Osteomyelitis, epidurale Abszesse, Meningitis). Als Warnzeichen sind Fieber, Nachtschweiß, Gewichtsverlust, Tumor- und Traumaanamnese zu nennen.

Bildgebende Diagnostik: ja oder nein?

Bei nicht-traumatischen Nackenschmerzen (wie in diesem Fall) ist auf eine Röntgenuntersuchung zu verzichten, wenn Hinweise auf abwendbar gefährliche Verläufe zuvor ausgeschlossen wurden. Eine Röntgenuntersuchung der zervikalen Wirbelsäule sollte lediglich bei Patienten mit langfristigen Schmerzen, Trauma und Verdacht auf Vorliegen einer knöchernen Veränderung (z. B. bei steroidaler Dauermedikation, Osteoporose, Polyarthritis) erfolgen (vgl. Übersicht 1).

Eine Computertomographie sollte nur bei Verdacht auf osteoligamentäre Läsionen oder bei auffälligem Röntgenbefund durchgeführt werden. Als Indikationen für eine MRT gelten progressive, frische oder therapieresistente neurologische Defizite, radikuläre Schmerzen mit anamnestisch vermutetem Bandscheibenprolaps innerhalb der letzten zwei Jahre sowie der Verdacht auf eine Gefäßdissektion.

Therapeutisches Vorgehen

Die oberste Maxime der Therapie muss lauten: Primum non nocere (lat.: zuerst einmal nicht schaden). Darüber hinaus sollte bei der Behandlung von Patienten das Prinzip der partizipativen Entscheidungsfindung (shared decision making) gelten. Gerade in der Behandlung von Patienten mit Nackenschmerzen sind im Spannungsfeld zwischen Patientenwunsch, eigenen Vorstellungen, Budgetierung und Evidenz vielfach Kompromisse erforderlich – insbesondere bei häufig nachgefragten physikalischen Anwendungen, die in hausärztlichen Praxen gut umsetzbar, jedoch zum Großteil nicht durch wissenschaftliche Evidenz gestützt sind. Auf den prognostisch günstigen Effekt von sportlicher Betätigung sollte hingewiesen werden. Studien zu Krankengymnastik zeigen, dass Ausdauer-, Kräftigungs- und Koordinationstraining zu einer Verbesserung der Muskelfunktion führt.

Weitere Bestandteile der Beratung sollten der zumeist harmlose Charakter der Nackenschmerzen, die hohe Spontanheilungstendenz und die Neigung zu Rezidiven sein. Die Grenzen von Diagnostik und Therapie sollten offen angesprochen werden. Patienten sollten auf mögliche Risikofaktoren für Nackenschmerzen aufmerksam gemacht (z. B. Übergewicht, Schwangerschaft und Arbeitssituation) und offen auf chronischen Stress, Depressivität oder Ängstlichkeit angesprochen werden. Trotz fehlender Studienevidenz für die lokale Anwendung von Wärme sollten Patienten zu Therapien ermutigt werden, die sie als lindernd empfinden und selbst anwenden können – sofern sie kostenneutral sind und nicht schaden.

Die medikamentöse Therapie bei Nackenschmerzen ist rein symptomatischer Natur. Man sollte sich dabei am Stufenschema der WHO orientieren. Bei nicht ausgeprägten Nackenschmerzen ist Paracetamol das Mittel der ersten Wahl. Bei ungenügender Wirkung können Acetylsalicylsäure (ASS) und nicht-steroidale Antirheumatika (NSAR) eingesetzt werden. Aufgrund ihrer unerwünschten Arzneimittelwirkungen (v. a. gastrointestinale Blutungen) sind sie insbesondere bei entsprechender Anamnese zurückhaltend einzusetzen und bei älteren Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion zu vermeiden. Ibuprofen oder Diclofenac zeigen die geringste Wahrscheinlichkeit für gastrointestinale Komplikationen. Diazepam ist bei subakuten Nackenbeschwerden nicht wirksam, während Tetrazepam im Vergleich zu Paracetamol durchaus positive Effekte bei akuten Beschwerden aufwies. Einigen Interventionsstudien zufolge sind intramuskuläre Injektionen in myofasziale Triggerpunkte mit Lidocain sowohl kurzfristig (zwei Wochen) als auch langfristig (drei Monate) wirksam, sofern sie mit Dehnungsübungen kombiniert werden.

Abschließende Diskussion zum Fall

Auffallend ist die Diskrepanz zwischen dem subjektiven Krankheitsempfinden der Patientin und der objektiven hausärztlichen Problemeinschätzung. Die subjektive Schmerzinterpretation ist geprägt von einer massiven Überbewertung der körperlichen Missempfindungen und einem wenig belastbaren körperlichen Selbstkonzept. Emotional sind Hilflosigkeit, Verzweiflung, das Gefühl, nicht ernst genommen und missverstanden zu werden, sowie Resignation zu spüren. Vordringliche Aufgabe ist die Motivierung der Patientin zur Verhaltensänderung (frühzeitige Aktivierung, Förderung der körperlichen Ausdauer, Erlernen eines häuslichen Übungsprogrammes), eine Veränderung der Einstellung bzw. Befürchtungen hinsichtlich beruflicher und körperlicher Aktivität, die Verbesserung der emotionalen Beeinträchtigung sowie eine begleitende Psychotherapie mit dem Ziel der Schmerzbewältigung und -kontrolle.


Literatur
1) http://leitlinien.degam.de/index.php?id=269

Interessenkonflikte:
Alle Autoren sind Mitglieder der Ständigen Leitlinien-Kommission der DEGAM.

Prof. Dr. med. Martin Scherer


Kontakt:
Prof. Dr. med. Martin Scherer
Institut für Allgmeinmedizin
Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf
20246 Hamburg

Prof. Dr. med. Wilhelm-Bernhard Niebling

Anja Wollny, M.Sc.

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2012; 34 (12) Seite 22-24